Heimkinder. Urs Hafner

Heimkinder - Urs Hafner


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ihr die Kinder weinen» – zwar ist die Studie, die der amerikanische Psychohistoriker Lloyd deMause der Geschichte der Kinder gewidmet hat, wegen ihrer Stossrichtung, diese nur als Opfer zu sehen, umstritten.4 Doch der Titel darf für dieses Buch sprechen, das sich mit Kindern befasst, die ohne ihre Eltern in meist streng kontrollierten Institutionen aufwachsen. Die Geschichte der in Heimen und Anstalten untergebrachten Kinder und Jugendlichen ist über weite Strecken eine Geschichte weinender Kinder und Jugendlicher, die von niemandem gehört wurden.

I. Die Gnade des Spitals 15

      Das Mittelalter kennt keine kindgerechte Pädagogik, aber auch nicht die Anomalie der Verhaltensauffälligkeit. Waisenkinder finden Obhut und – zumindest gemäss der christlichen Lehre – Barmherzigkeit im Spital. Elternlose Kinder sowie bedürftige und kranke Erwachsene leben oftmals in den gleichen Räumen. Sie werden mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und auf Betteltour geschickt. Betteln ist weder verpönt noch verboten. Die Armut wird breit akzeptiert, weil sie den Reichen die Möglichkeit bietet, mit ihren Almosen die göttliche Gnade zu erlangen.

      Die Gnade

       des Spitals

      Wie war es im Mittelalter, ein Kind zu sein? Standen die Erwachsenen, wie der Mentalitätshistoriker Philippe Ariès behauptet, den Kindern gleichgültig gegenüber und behandelten sie als kleine Erwachsene, was ihnen – oder zumindest den privilegierten unter ihnen – zumindest ein von moralisierenden und pädagogisierenden Interventionen unbehelligtes Aufwachsen erlaubte? Oder hatten die Kinder für die Erwachsenen einen derart geringen Wert, dass diese jene, wie der Psychohistoriker Lloyd deMause vermutet, bei jeder Gelegenheit schlugen und sogar töteten, wenn sie sich von ihnen keinen Nutzen mehr versprachen?5 Das sind zwei extreme Positionen. Doch ihr Auseinanderklaffen zeigt, dass das mittelalterliche Leben nicht einfach zu rekonstruieren ist, ganz abgesehen davon, dass die Lebensweisen, die Sitten und Gebräuche je nach Region und Epoche beträchtlich variierten. Die Quellenlage lässt über den Alltag einfacher Leute im Mittelalter kaum gesicherte Aussagen zu; überliefert sind im schriftlichen Bereich vor allem offizielle Dokumente wie etwa Urkunden. Diese geben ohnehin keine Auskunft über die Lebenswirklichkeiten von Kindern. Wahrscheinlich litten diese unter der für das Spätmittelalter charakteristischen hohen Gewaltbereitschaft. Der Mediävist Arnold Esch berichtet von brutalen, tödliche Folgen nach sich ziehenden Züchtigungen durch Eltern und Geistliche. Ein Augenzeuge im Wallis des 15. Jahrhunderts erinnert sich, wie ein Vater seiner siebenjährigen Tochter eines Abends befahl, «sie solle singen. Aber sie wollte nicht. Wütend darüber, schlug er sie mit zwei Ruten aus einem Besen, und mit der flachen Hand stiess er sie zu Boden.»6

      Die Armut dürfte im Hochmittelalter in städtischen Gebieten einer der wichtigsten Gründe gewesen sein, weshalb Kinder nicht bei ihren Eltern aufwuchsen. Sie stellte ein strukturelles Problem der mittelalterlichen Städte dar. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sahen sich in ihrer unmittelbaren physischen Existenz bedroht. Das Spektrum der Betroffenen reichte von Waisen, Krüppeln, Kranken und Witwen über die sogenannten unehrlichen Berufe – etwa Scharfrichter, Prostituierte, Abdecker – und unselbständigen Lohnabhängigen, die in der Textilproduktion, im Bauhandwerk und im Agrarsektor tätig waren, bis zu den selbständigen Handwerken.7 Das gängigste Mittel, die Folgen der Armut abzuschwächen, war das Betteln. Bettelnde Menschen gehörten in vielen Gegenden Europas noch bis in das 19. Jahrhundert zum Strassenbild, doch im Mittelalter galt das Betteln als ein legitimes Mittel, sein Auskommen zu finden.8 Es unterlag – dies im Unterschied zu heute – keinerlei sozialen Ächtung. Die Bettler und Bettlerinnen gingen in den Augen der Gesellschaft einem anerkannten Beruf nach. In manchen Städten schlossen sie sich sogar zu zunftähnlichen Gebilden zusammen. Wer vom Bettel lebte, wurde deswegen nicht stigmatisiert. Wer um Almosen bat, dem wurde in der Regel gegeben.9

      Ohne die Religiosität ist die mittelalterliche Wohlfahrt nicht zu begreifen. Die Furcht vor der Hölle und vor dem Jüngsten Tag, an dem durch die göttliche Rechtsprechung die Gerechten von den zur Hölle Verdammten geschieden würden, liess die Gläubigen – zumindest diejenigen, die es sich leisten konnten – nach «guten Werken» streben, die ihr eigenes Seelenheil sowie dasjenige naher Verstorbener garantieren sollten. Die mittelalterliche Frömmigkeit umfasste die Lebenden wie die Toten, die zwischenmenschlichen Bindungen einer Gruppe wurden durch den Tod nicht gelöst. Der Tote war eine unter den Lebenden gegenwärtige Person. Mit dem Mittel der Stiftung konnte die Gegenwart der Toten immer wieder erneuert und gesichert werden.

      Der Stifter stellte Teile seines Vermögens für einen dauernden spirituellen Zweck zur Verfügung. Stiftungen waren im Mittelalter eine tragende Säule der Wirtschaft und Wohlfahrt. Die wichtigsten Stifter waren die adligen Stände, besonders die Könige und Kaiser. Sie stifteten Dome, Spitäler, Studentenheime, Klöster und Kanonikerstifte. Den Stiftungen lagen zwar auch weltliche Motive zugrunde: Schutz und Sicherung des Besitzes innerhalb der Dynastie, dessen Bewahrung vor Erbteilung, die Schaffung einer Versorgungsanstalt für Söhne und Töchter, politische Interessen, Machterhaltung, verwaltungstechnische Erfordernisse. Das wichtigste Motiv jedoch war ein religiöses: die Überzeugung, dass man mit einer frommen Stiftung den von der betenden klerikalen Gemeinschaft geschaffenen Zugang zum göttlichen Gnadenschatz erhalten würde. Der Stifter stiftete, und die Beschenkten gedachten seiner im unablässigen Gebet. Auch nach seinem Hinschied erneuerten sie das Gedenken an den Toten und versorgten dessen Seele, um ihr ein standesgemässes Schicksal zu garantieren.10

      Die in der mittelalterlichen Stadt allgegenwärtige und gut sichtbare Armut galt nicht als Stigma. Der Reiche war auf den Armen angewiesen, damit er sein gutes Werk vollbringen und sich der Gnade versichern konnte. Armut war gar eine Tugend. Der Arme wurde als Abbild Christi gesehen, und Armut eröffnete den Armen wie den Reichen, welche die Armen mit Almosen versorgten, den Weg zum Seelenheil.11 Daraus zu schliessen, im Mittelalter sei das Leben in Armut und Not nicht auch entbehrungsreich und unmenschlich gewesen, wäre falsch. Doch unter den damaligen Verhältnissen dürfte der Arme nicht mit einer schneidenden Verachtung wie in späteren Zeiten konfrontiert worden sein. Noch heute, rund ein halbes Jahrhundert nach dem Aufbau des Sozialstaates, gilt Armut als ein Grund zur Scham. Wer arm ist, sucht dies in der Regel zu verbergen.

      Die Kinder armer und unter prekären Verhältnissen lebender Menschen waren dem erhöhten Risiko ausgesetzt, elternlos aufwachsen zu müssen. Für diese Kinder finden sich schon in der christlichen Spätantike Einrichtungen, die über die Aufnahme elternloser oder verlassener Kinder bei Verwandten oder in anderen Familien – die einfachste Art, elternlose Kinder zu betreuen – hinausgehen. Überliefert ist die organisierte Unterbringung von Waisenkindern bei Witwen und in Hospitälern. In einer die Benediktinerregel prägenden Mönchsregel des Kirchenvaters Basilius des Grossen (um 330–379) heisst es, Waisen sollten ohne Einschränkung aufgenommen werden, sodass die Mönche «nach dem Beispiel Jobs Väter der Waisen werden». Basilius gründete im Jahre 369 bei Caesarea (dem heutigen türkischen Kayseri) ein Hospital, das auch Waise beherbergte.12

      Am Anfang der organisierten ausserfamilialen Betreuung von Kindern steht das Kloster. Es ist eine der historischen Wurzeln des Spitals. Oft ging es aus dem klösterlichen Gastraum hervor, wo jene Menschen vorübergehend Zuflucht fanden, die nicht dem Bettel nachgehen konnten.13 Das Kloster richtet seinen Zusammenhalt nach anderen Regeln als ein Verwandtschaftsverband aus. Hier lebt nicht zusammen, wer durch das Blut verbunden ist – sei es durch Abstammung oder körperliche Vereinigung –, sondern wer sich in der Nachfolge Christi zu dessen Idealen bekennt: der sexuellen Enthaltsamkeit und dem Verzicht auf die Anhäufung weltlichen Besitzes. Diese klösterlich-mönchischen Ideale sind, wie Josef Martin Niederberger festgehalten hat, mit dem familialen Leben nicht vereinbar.14

      Daran sind drei Punkte bemerkenswert: Erstens ist es nicht selbstverständlich, dass eine Gesellschaft sich überhaupt planmässig derjenigen Kinder annimmt, die keine Obhut haben; denkbar wäre auch, sie sich selber oder den näheren Verwandten zu überlassen. Letzteres freilich dürfte vor der Unterbringung im Kloster


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