Heimkinder. Urs Hafner

Heimkinder - Urs Hafner


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Armenerziehung beziehenden Pläne sind allesamt durchdrungen von der Notwendigkeit der Erziehung. Er ging sogar so weit, auch die Erziehung der reichen, aber faulen Kinder zu verlangen, damit diese kein schlechtes Beispiel abgäben. Nur so könne die Armut überwunden werden.41 Anders also als der vorherrschende reformatorische und obrigkeitliche Diskurs seiner Zeit sah Vives die Ursache und Schuld für die Armut nicht bei den Armen selbst.

      Die Realität der Fürsorge für verwaiste und verlassene Kinder war eine andere. Nicht Pädagogik, sondern Disziplinierung stand im Vordergrund. Auch wenn Vives’ Vision ihre disziplinierende Seite hatte, macht sie das Konzept einer auf Kinder zugeschnittenen Pädagogik sichtbar, das erst am Ende des 18. Jahrhunderts breiter formuliert und rezipiert werden sollte. Die Durchsetzung dieser Pädagogik war eng an die Vorstellung der bürgerlichen Familie beziehungsweise die Leitung der Anstalt durch ein Ehepaar geknüpft: die Hauseltern, den Hausvater und die Hausmutter. Das mittelalterliche Spital wurde von einer Ordensgemeinschaft geführt, die Kinder und Jungendlichen wurden mithin von Erwachsenen betreut und überwacht, die dem familial-sexuellen Leben entsagt hatten. Was das für Kinder bedeutete, ist nicht einfach zu sagen. Vermutlich dürfte die Integration in die bürgerliche Welt und deren Ideale nicht zu den Hauptzielen der Ordensleute gezählt haben. Im mittelalterlichen Spital, im Waisen- und Findelhaus wurde das Waisenkind mit dem Lebensnotwendigsten unterstützt und, sofern es dazu in der Lage war, wieder auf Betteltour geschickt; dass es bettelte, dürfte weder ein Skandal noch ein besonderes Ärgernis gewesen sein. Das änderte sich mit der Reformation, wobei dieses Ereignis als unmittelbarer Einschnitt und Umschlag nicht überschätzt werden darf. Sowohl in sozialals auch in kulturgeschichtlicher Hinsicht sind die Übergänge vom 15. ins 16. und 17. Jahrhundert fliessend.42 Die Reformation unterzog den internierten Jugendlichen nicht einer Pädagogik, aber einer Disziplinierung: Wer nicht arbeite, versündige sich, und wer bettle, sowieso. Der Arbeit kam ein neuer und hoher Stellenwert zu. Das von der Reformation zentralisierte und der städtischen Obrigkeit unterstellte Spital dürfte den Insassen diese neuen Grundsätze nachdrücklich eingebläut haben.

II. Das Regime des Waisenhauses 31

      Mit der Reformation ändert sich die Einstellung zur Armut. Wer arbeitsfähig ist, soll arbeiten, damit er nicht dem Gemeinwesen zur Last fällt und sich sündig macht – auch Jugendliche. In der Frühneuzeit entsteht der neue Heimtypus des Waisenhauses. Es unterscheidet zwischen den bis anhin einheitlich behandelten Kindern und Erwachsenen, bleibt aber sowohl organisatorisch als auch räumlich an die Armen-, Zucht- und Arbeitshäuser gekoppelt. Diese Institutionen sollen die Menschen vom «Müssiggang» fernhalten und auf die richtige Bahn bringen.

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