Heimkinder. Urs Hafner

Heimkinder - Urs Hafner


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geschehen; man könnte sie auch, wie dies historisch wohl häufiger der Fall war, beispielsweise als Arbeitskräfte verkaufen oder – wie in der Schweiz noch im 20. Jahrhundert üblich – verdingen. In diesem Fall profitierten die Erwachsenen gleich doppelt von den Kindern: Während die politische Autorität diese nicht zu verköstigen brauchte, konnte der das Kind aufnehmende Bauer auf eine günstige Arbeitskraft zurückgreifen. Drittens bringt die Gesellschaft die Kinder just an einem Ort unter, der von einem Prinzip strukturiert wird, das zur Mehrheitsgesellschaft im Gegensatz steht: der sexuellen Enthaltsamkeit. Anders als die Familie pflanzt sich der klösterliche Verbund nicht selbst fort. Den dort lebenden elternlosen Kindern kommt daher wie den religiösen erwachsenen Bewohnern ein besonderer Status zu, der sie im doppelten Sinne aus der menschlichen Gesellschaft heraushebt.

      Im 13. Jahrhundert wurden viele Spitäler von dem um 1160 gegründeten Hospitalorden vom Heiligen Geist ins Leben gerufen, der sich die Betreuung von Findelkindern und Waisen zum Ziel gesetzt hatte. Die Entstehung des Ordens muss im Zusammenhang mit der kirchlichen Reformbewegung gesehen werden, die im 12. Jahrhundert auf grössere soziale Spannungen in den Städten antwortete. So übte etwa Franz von Assisi (um 1181–1226) Kritik am Wohlstand der Bürger und solidarisierte sich mit den Randgruppen.15 Im 13. Jahrhundert kam es auch in zahlreichen Schweizer Städten, so in St. Gallen, Bern, Schaffhausen und Winterthur, zu Spitalneugründungen, weil die Spitalfürsorge kommunalisiert und zentralisiert wurde.16

      Wer seinen Unterhalt nicht durch den Bettel bestreiten konnte, der wurde im Spital untergebracht. Es bildete im Spätmittelalter neben dem Siechenhaus, in das Menschen mit ansteckenden Krankheiten eingewiesen wurden, die klassische Anstalt der Fürsorge und Versorgung schlechthin. Das mittelalterliche Spital hat mit dem modernen wenig gemein. Es war kein medizinisch spezialisierter Ort der Krankheitsbekämpfung, sondern erfüllte ein breites Feld von Funktionen: Es diente als Herberge für mittellose Reisende, als Asylstätte, als letzter Ort für unheilbar Kranke, als Verwahrungsanstalt für Irre, als Gefängnis und Versorgungsanstalt für bedürftige Verwitwete, Waisen und Findelkinder. Noch vor der Krankenbetreuung diente das Spital also der Fürsorge armer Menschen. Sie oblag in der mittelalterlichen Gesellschaft primär der römischen Kirche. Heute übernimmt der Sozialstaat diese Aufgaben. Die meisten Spitäler wurden von Orden und Bischöfen gestiftet, später auch von weltlichem Adel oder dem aufstrebenden städtischen Patriziat.17 Wurden sie anfänglich von religiösen Institutionen verwaltet, also von Klöstern und Kongregationen, gingen sie im Spätmittelalter oft in städtischen Besitz über.18

      Das mittelalterliche Spital war nicht nur ein Sammelbecken aller «Elenden» und Randgruppen, ein Ort für Alte und Pilger; es nahm auch Kinder auf, die von ihren Eltern verlassen worden waren, die in oder vor der Kirche ausgesetzt wurden – Findelkinder, arme Kinder, körperlich und geistig behinderte Kinder, Waisenkinder. Als Waisen galten – anders als heute – nicht nur Kinder, deren Eltern gestorben waren, sondern alle verlassenen oder ohne Obhut lebenden Kinder. Das Aussetzen von Kindern war eine von armen Eltern gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten oft angewendete Strategie, um diese zumindest in den ersten Lebensjahren von der öffentlichen Hand versorgen zu lassen. Es besteht eine Korrelation zwischen Bevölkerungswachstum, wirtschaftlichen Krisen und einer Zunahme von Kindsaussetzungen.19 Das Spital war also der Ort, an dem elternlose Kinder im Spätmittelalter am häufigsten aufwuchsen – wenn sie nicht von der Familie des Vormunds aufgenommen (falls das Kind einen Vormund hatte) oder an Pflegefamilien verdingt wurden.20

      Zur Strafe

       in der Kinderstube essen

      Die Kinder wurden nicht konsequent von den übrigen Spitalinsassen getrennt. Manche Hospitäler verfügten zwar über sogenannte Waislinkammern, in denen Waisen untergebracht wurden.21 In diesem Fall lebten die kleineren Kinder getrennt von den erwachsenen Insassen des Hospitals, doch wurde diese Trennung nicht immer eingehalten.22 Oft dürften sich Kinder und Erwachsene in den gleichen Räumen aufgehalten, gegessen und geschlafen haben. Eine der frühesten überlieferten Quellen, die eine Art von stationärer Fürsorge für Waisenkinder belegt, ist die Gründungsurkunde des Spitals St. Gallen von 1228. Arme und verlassene Kinder, deren sich niemand annahm, sollten im Spital Zuflucht finden und mit den erwachsenen Insassen, also Pfründern, Kranken und Gebrechlichen, zusammenleben, bis sie ihren Lebensunterhalt selbst durch Bettel bestreiten konnten. Die Kinder erhielten also im Spital eine Zeit lang Obdach und Nahrung. Betreut wurden sie von einem Waisenvater.23 Freilich nahm das Spital in der Regel nur Bürgerskinder auf, also die Kinder jener privilegierten Stadtbewohner, die das Bürgerrecht innehatten und fähig waren, für ihren Unterhalt aufzukommen.

      Auch das Spital von Freiburg beherbergte im 14. Jahrhundert Kinder, und zwar elternlose Kinder, uneheliche Kinder und Findelkinder. Sie lebten getrennt von den übrigen Spitalinsassen in einem eigenen Gebäude, der «Kinderstube». Überwacht wurden sie von einer Spitalmeisterin. Insassen, die sich eines Vergehens schuldig gemacht hatten, mussten zur Strafe in der Kinderstube essen, wo weder Fleisch noch Wein aufgetischt wurden. Das Spital von Luzern nahm neben elternlosen und unehelichen Kindern auch Kinder von Hingerichteten und Verbannten auf. Im Zürcher Spital hielten sich ebenfalls nicht nur Kranke, sondern auch Verkrüppelte, Geisteskranke, Pfründner, Arme – und Waisenkinder auf.24 Gleiches gilt für das Basler Spital. Dort hatte eine «Mutter» ähnliche Funktionen inne wie die Oberin von Ordensschwestern. Sie musste geloben, «die armen bedürftigen Kinder wohl zu warten».25

      Neben den Klöstern und Spitälern gab es vereinzelt Institutionen, die sich exklusiv der organisierten Betreuung von elternlosen Kindern oder solchen, die ausserhalb der Verwandtschaft aufwuchsen, widmeten: Waisenhäuser und Findelhäuser. Im Jahr 787 wird in Mailand ein Findelhaus gegründet. Es nimmt nicht akzeptierte Kinder auf, die ansonsten oft ausgesetzt oder getötet werden. Ende des 12. Jahrhunderts eröffnet Papst Innozenz in Rom ein Heilig-Geist-Spital, das illegitime und unerwünschte Kinder aufnehmen sollte. Angeblich waren den Tiber hinuntertreibende Kinderleichen ein häufiger Anblick.26

      Was für ein Geist herrschte im mittelalterlichen Spital, wie lebte es sich für die Kinder innerhalb von dessen Mauern? Das ist schwierig zu sagen, zumal hier die Gefahr des Anachronismus lauert. Weder kannte das Mittelalter den Begriff des «Kindes», wie wir ihn heute kennen, noch bildete es pädagogische Konzepte aus. Die Vorstellung, dass eine bestimmte elterliche Haltung gegenüber dem Kind zu bestimmten charakterlichen, kognitiven und psychischen Eigenschaften führt, ist eine moderne Erscheinung.

      Im Spital dürfte ein klösterlicher Geist geherrscht haben. Ähnlich wie ihr Vorbild, das Kloster, gewährte diese Institution Zuflucht vor der Unbill des Lebens; freilich war das Spital primär ein Ort für Randgruppen. Absoluter Gehorsam gegenüber dem Spitalmeister oder der Spitalmeisterin war von den Kindern und Jugendlichen sicherlich gefordert; wer nicht parierte, musste mit harten körperlichen Züchtigungen rechnen. Die Kinder lebten zumeist nicht getrennt von den erwachsenen Armen und Kranken. Sie bekamen also deren Alltag, wohl auch deren Probleme und Konflikte ungefiltert mit. Und sie waren vermutlich deren Befehlen, Wünschen und auch eventuellen Misshandlungen ausgeliefert. Kinder besassen in der mittelalterlichen Gesellschaft keine Rechte.

      Der Tagesablauf dürfte sich an der klösterlichen Ordnung orientiert haben. Gebete und Gottesdienste gehörten zum Spitalalltag. Die einfachen Mahlzeiten wurden an den nicht seltenen Fest- und Feiertagen durch fromme Gaben und Wohltaten von Stiftern aufgebessert.27 Da Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft nicht negativ konnotiert war, dürfte sich der Aufenthalt im Spital kaum stigmatisierend auf die Insassinnen und Insassen ausgewirkt haben. Wer im Spital lebte, profitierte von der christlichen Barmherzigkeit und Gnade. Er musste sich – zumindest gemäss der religiösen Theorie – seinen Aufenthalt nicht eigens verdienen.

      Das mittelalterliche Bild des Spitals, das verarmte und kranke verlassene Kinder sowie Erwachsene aus christlicher Barmherzigkeit in einem Gnadenakt bedingungslos aufnimmt – oft allerdings dürften in erster Linie Bürgerskinder von diesem karitativen Dienst profitiert haben –, evoziert eine in dieser Form nicht mehr bekannte Grosszügigkeit. Sie ist weder in den Arbeitshäusern des 18. Jahrhunderts anzutreffen, noch wird sie vom modernen Sozialmanagement vertreten. Im Mittelalter wurden Arme, Verlassene,


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