Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst

Toter Regens - guter Regens - Georg Langenhorst


Скачать книгу
Tür war nicht abgeschlossen? Sind Sie da ganz sicher? Das ist wichtig!“, warf Thiele ein, der so zum ersten Mal die Rolle als reiner Beobachter aufgab. Der Subregens drehte sich ihm zu, runzelte kurz die schweißglänzende Stirn und meinte dann: „Unsinn, die ist nie abgeschlossen. Das gibt es hier bei uns nicht. Privatzimmer darf man schon mal abschließen, aber Dienstzimmer doch nicht! Nein, nein: Die war offen, so wie immer. Na ja, dann bin ich also rein. Und da lag er: zwischen Schreibtisch und Sofa. Der Kopf sah furchtbar aus. Und das viele Blut!“

      „Sind Sie dann zu ihm hingegangen und haben überprüft, ob er noch lebt?“, griff nun Kellert wieder in das Gespräch ein. „Nein, das habe ich nicht. Das hätte jeder sehen können, dass der tot ist. Außerdem: Ich habe ein freiwilliges soziales Jahr gemacht als Rettungssanitäter. Glauben Sie mir: Ich kann das sofort sehen, ob einer tot ist oder noch lebt. Und hier gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Der war tot!“

      Kellert nickte ihm zu: „Und sind Sie dann noch in dem Raum herumgegangen? Haben Sie irgendetwas berührt oder mitgenommen? Oder irgendetwas Außergewöhnliches beobachtet?“ ‚Tse‘, dachte Thiele, ‚Bernd: du bist nicht ganz in Form. Drei Fragen auf einmal – die stellt man nicht. Eine der ersten Lektionen in Gesprächsführung!‘ Wie überhaupt: Kellert schien in der letzten Zeit bedrückt. Nicht mehr so elanvoll, nicht mehr in der Spannung, die Thiele in den ersten Jahren an seinem Chef beobachtet hatte.

      Arenhövel schien sich an all dem aber nicht zu stören. „Nichts, gar nichts“, beteuerte er. „Ich bin sofort raus aus dem Raum, habe weder etwas berührt – wenn ich mich nicht täusche – noch etwas mitgenommen. Was denn auch? Und wie sollte ich irgendetwas dort beobachtet haben? Ich war – und bin – völlig durcheinander!“

      „Das verstehe ich vollkommen“, erwiderte Kellert nun in ruhigerem, mäßigendem Ton. „Aber bitte versuchen Sie sich zu konzentrieren. Wie war das, als Sie den Raum betraten? War da ein Licht eingeschaltet? Brannten Kerzen?“

      Arenhövel blickte den Kommissar überrascht an, runzelte die Stirn und dachte nach. „Nein, ein Licht war da nicht eingeschaltet, da bin ich sicher“, sagte er nach einiger Zeit. „Warum auch, es war ja taghell. Und Kerzen? Nein, da brannte keine Kerze. Wobei …“ – wieder überlegte er – „Regens Görtler hat abends gern Kerzenlicht in seinem Zimmer gehabt. Vielleicht haben Sie die großen Leuchter bemerkt. Die brannten oft stundenlang. ‚Das beruhigt mich‘, hat er immer gesagt.“

      Thiele fragte nach: „Und Sie haben die sicher nicht ausgeblasen?“ Arenhövel wandte sich irritiert dem jüngeren der beiden Polizisten zu. „Nein, das habe ich doch gesagt! Da brannte keine Kerze, als ich den Raum betrat. Ganz sicher nicht! Auch wenn …“ – wieder versuchte er, sich genau zu erinnern – „da schon ein Kerzenduft in der Luft hing. Jetzt, wo Sie das ansprechen, fällt es mir wieder ein.“

      „Seltsam! Sehr seltsam!“, überlegte Kellert. „Wer hat die denn dann gelöscht? Der Regens selbst, noch vor seinem Tod? Der Mörder? Aber was für ein Mörder löscht denn nach der Tat noch die Kerzen im Raum?“ Die drei Männer blickten sich ratlos an, jeder mit seinen Gedanken befasst.

      Schließlich ergriff der Kommissar das Wort. „Eine vorerst letzte Frage habe ich aber noch: Dieser – wie hieß der gleich wieder? –“, er blickte hilfesuchend zu Thiele, der sofort „Dietz“ sagte. „Richtig, dieser Dietz, also der …“ – „Spiritual“, ergänzte dieses Mal Arenhövel – „kam der dann noch? Ist er jetzt auch hier?“ Der Subregens zögerte mit der Antwort, blickte von Kellert zu Thiele und wieder zurück, erwiderte dann: „Keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Ich habe ihn noch nicht gesehen. Und das ist sehr ungewöhnlich. Günther ist sonst ausgesprochen zuverlässig.“

      Kellert überlegte einen kurzen Moment. Dann stand er auf, legte dem Subregens die rechte Hand auf die Schulter und sagte: „Vielen Dank, Herr Arenhövel. Ich kann mir vorstellen, dass das für Sie jetzt nicht leicht ist. Aber wir brauchen wirklich so früh wie möglich genaueste Informationen. Sind eigentlich alle Bewohner des Hauses jetzt hier?“ Auch Arenhövel stand nun auf und blickte dankbar auf den Kommissar.

      „Ich denke schon“, gab er zurück. „Die Alumnen sind ja jetzt aus ihrem freien Wochenende zurück. Und haben natürlich alle mitgekriegt, was hier los ist. Wahrscheinlich kochen in der Gerüchteküche wilde Spekulationen. Irgendetwas wird sich längst herumgesprochen haben. Um Gottes willen, wie soll das nur weitergehen?“

      „Das zumindest kann ich Ihnen sagen“, erwiderte Kellert. „Wir rufen für“ – er blickte auf seine Armbanduhr – „elf Uhr eine Versammlung ein von allen, die hier im Haus leben oder arbeiten. Sie haben dafür doch sicherlich einen geeigneten Raum?“ Arenhövel nickte, während Kellert weitersprach: „Keine Sorge: Ich führe das Wort. Halten Sie sich bitte zurück. Und du“ – hier blickte er zu Thiele, der sich ebenfalls erhoben hatte – „versuchst erst einmal rauszukriegen, wo dieser Dietz abgeblieben ist.“

      4

      ‚Erstaunlich, wie gut die KT inzwischen ist. Und wie schnell!‘, dachte Kellert. Der hinzugezogene Gerichtsmediziner von der Uniklinik hatte sich rasch festgelegt: „Todeszeitpunkt gegen zehn Uhr gestern Abend, plus minus eine Stunde“, hatte er Kellert bei einer kurzen Besprechung auf den Fluren des Priesterseminars erklärt: „Der Tod wurde zu fast einhundert Prozent durch drei oder vier heftige Schläge mit einem schweren, massiven, stumpfen Gegenstand herbeigeführt. Ob aus Stein, Metall oder Glas – das kann ich jetzt noch nicht sagen. Vielleicht weiß ich morgen Genaueres.“

      Was immer als Mordwaffe benutzt worden war, es war unauffindbar. Im Dienstzimmer des Regens fand sich keine Spur. Kellert hatte Thiele aufgetragen: „Schick mal eine der Schwestern dorthin, wenn der Leichnam abtransportiert worden ist. Eine, die sich in dem Dienstzimmer auskennt. Vielleicht bemerkt sie, ob etwas fehlt.“

      Keine Spur von der Tatwaffe, dafür jede Menge sonstiger Spuren in dem Raum. Geradezu eine Überfülle. „Da gingen täglich viele Menschen ein und aus, das war quasi ein öffentlicher Raum. Jeder der Bewohner dieses Hauses war da irgendwann schon einmal. Und dazu Gäste von außen. Also: Erwarte dir nicht viel von den Fingerabdrücken. Aber wir tun, was wir können“, hatte ihm Thomas Kleinheister einen schnellen ersten Zwischenbericht gegeben. ‚Ich war da sowieso skeptisch‘, hatte Kellert gedacht, ‚aber jetzt bin ich gespannt auf die Versammlung der Hausbewohner.‘

      Punkt elf. Ein aufgeregtes Stimmengewirr drang durch die Türen des Speisesaals nach draußen auf den Flur. Subregens Maximilian Arenhövel öffnete die Tür von innen, erkannte den Kommissar und winkte ihn zu sich. ‚Dann hat er also doch schon einige Informationen weitergegeben. Na, nicht so schlimm. Hoffentlich!‘, fuhr es Kellert durch den Sinn.

      „Alle da?“, raunte er Arenhövel zu. Der nickte mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung, fügte dann aber leise hinzu: „Bis auf Spiritual Dietz natürlich. Und unser Repetent, Marcus Rühle, fehlt auch. Aber der kommt und geht sowieso, wann und wie er Lust hat.“ Kellert blickte ihn fragend an. „Dass erkläre ich Ihnen später“, meinte Arenhövel und wies auf die Tür vor ihnen. In der Tat, jetzt ging es um etwas anderes. Kellert zögerte kurz und betrat dann den großen Raum, der normalerweise als Speisesaal oder Versammlungsraum für größere Anlässe aller Art diente.

      Sofort legte sich das Gemurmel. Gespannte, unsichere, ängstliche Augenpaare blickten ihm entgegen. Kellert hatte seine Sinne darauf trainiert, gerade größere Menschengruppen rasch zu scannen, einzuschätzen, abrufbar abzuspeichern. Vor ihm mochten um die dreißig Personen sitzen. Man hatte die Tische an der Hinterwand des geräumigen Saales zusammengerückt, der problemlos die vierfache Menge an Menschen aufnehmen konnte. Mindestens.

      Auf locker gruppierten Stühlen saßen – das war nur wenig überraschend – vor allem Männer. Vier ältere Ordensfrauen in einfach geschnittenem schwarzweißem Habit und mit einer das Haar bedeckenden Haube hielten sich rechts im Hintergrund. Bei ihnen saßen einige weitere Frauen, wahrscheinlich Hausangestellte. Drei einfach gekleidete, ebenfalls ältere Männer – ‚mindestens fünfzig Jahre alt‘ schätzte Kellert – hatten sich hinten links so zusammengehockt, dass ein Wunsch zur Abgrenzung von den restlichen Menschen im Raum deutlich wurde. ‚Arbeiter, nehme ich an‘, dachte Kellert. ‚Was weiß


Скачать книгу