Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst

Toter Regens - guter Regens - Georg Langenhorst


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„Da fällt mir ein, dass ich mal gehört habe, dass Regens Görtler demnächst zum Weihbischof ernannt werden sollte. Da hätte dann also das ein oder andere Ämtchen und Pöstchen neu besetzt werden müssen.“ ‚Und das ist natürlich immer wieder ein Anlass, wo sich manche übergangen fühlen‘, fiel Dominik Thiele ein. ‚Gekränkte Eitelkeit und das Gefühl, zu kurz zu kommen – ein klassisches Gärbecken für Aggression bis hin zur Mordlust. So hat das einmal ein Ausbilder genannt‘, erinnerte er sich.

      „Und den Subregens, kennst du den auch?“, fragte er nach. – „Arenhövel? Über den weiß ich fast gar nichts. Der hält sich im Hintergrund. Von dem kannst du dir ja einen eigenen Eindruck verschaffen. Der lebt ja … noch“, fügte Verena Obmöller nach kurzem Zögern hinzu. Er blickte sie verwundert an. „Das wird ja wohl hoffentlich auch so bleiben. Also eine Leiche reicht mir völlig“, meinte er.

      „Und hast du etwas mitbekommen von der Stimmung dort im Priesterseminar? Wie sind die so drauf? Aggressiv, brav, folgsam? Gab es da Konflikte?“, fragte er nach. – „Da bin ich völlig überfragt. Keine Ahnung“, erwiderte seine Freundin. „Das ist halt eine riesengroße Männer-WG. Für mich eine fremde Welt. Da wird es Freundschaften und Feindschaften geben, ganz normal. Da wird es Eifersüchteleien und Machtspiele geben, auch das wie überall. Aber wir Laien waren da immer außen vor. Wir Frauen erst recht.“

      Damit war das Thema erschöpft. Versonnen schauten die beiden auf die letzten Lichtstrahlen vor dem Fenster. Die Straßenbeleuchtung war schon eingeschaltet. „Und?“, fragte Dominik Thiele nach längerem Schweigen, küsste Verena spielerisch auf den Kopf, drehte ihn zärtlich in seine Richtung und blickte sie aufmunternd an.

      „Ich muss noch mal an den Schreibtisch, Domm, tut mir leid. Muss noch einen Deutsch-Test korrigieren, den will ich morgen rausgeben. Hab ich keine Lust drauf. Muss aber sein.“ Sie schwang sich auf, gab ihrem Freund einen lauten Schmatzkuss auf die Wange und ging wieder hinüber in ihr Arbeitszimmer. Dominik Thiele zog eine enttäuschte Grimasse, trank einen langen Schluck aus seiner Bierflasche, griff sich die Fernbedienung und zappte sich durch die Angebote der unterschiedlichen Sender. Mal sehen, ob es wenigstens dort heute Abend irgendetwas halbwegs Interessantes gab.

      8

      Währenddessen stand Bernd Kellert auf einer leicht wackeligen Leiter und strich eine Wand. Schon zum zweiten Mal, denn der erste Anstrich hatte noch immer die alten dunkelgrünen Farbschichten durchscheinen lassen. Vor etwas mehr als einem Jahr hatten sich seine Frau Beate und er zur Verblüffung ihrer Freunde entschlossen, ein altes Haus zu kaufen, das in Polzingen, einem kleinen Dorf flussaufwärts, lag, eine knappe halbe Autostunde von Friedensberg entfernt. Als alteingesessener Friedensberger hatte ihn dieser Entschluss selbst überrascht. Aber irgendwie wollte er noch einmal eine Veränderung.

      Dass seine Kinder flügge wurden und die heimatliche Wohnung verließen, hatte ihn doch mehr getroffen, als er zugeben würde. ‚Mann, du gehst auf die fünfzig zu! Und den Rest des Lebens wirst du mit Beate allein verbringen‘, hatte er sich klargemacht. Und schon die Formulierung ‚Rest des Lebens‘ öffnete Abgründe, in die er lieber nicht genauer blicken wollte. ‚Ist das also die Midlife-Crisis?‘, hatte er sich gefragt. Und den Gedanken hinweggelächelt. Aber so leicht ließ er sich nicht verscheuchen.

      Manchmal wachte er morgens auf und fragte sich, warum sich heute das Aufstehen eigentlich lohne. Solche Gefühle waren ihm normalerweise völlig fremd. Das war etwas, mit dem er nicht umgehen konnte. Sein eigener Vater hatte am Ende seines Lebens unter Altersdepressionen gelitten. Bernd Kellert wusste, was das für die Betroffenen und ihre ganze Umgebung bedeutete. Sich selbst hätte er aber immer als immun gegen diese Krankheit eingeschätzt. Auf einmal war er sich da nicht mehr so sicher.

      Wie stark sein Leben eben auch von seiner Rolle als Vater geprägt gewesen war, hatte er bewusst gar nicht wahrgenommen. Nun, ohne die Kinder fehlte eine entscheidende Quelle des Antriebs. Seine Arbeit machte er nach wie vor gern. Und er war ein guter Polizist, das wusste er. Dass er die Welt letztlich nicht verbessern würde, das war ihm immer klar gewesen. Aber wenigstens ein bisschen sicherer und gerechter. Das reichte ihm. Immer noch.

      Trotzdem: Sein Leben schrie nach Veränderung. Eines Morgens hatte die Idee ganz klar vor seinen Augen gestanden. Die vor ihm liegende Lebensphase brauchte noch einmal einen neuen Rahmen. Ein Umzug schien eine verlockende Idee, gerade weil sie so unvermutet kam. Beate war es recht gewesen. Vor allem der große alte Gemüse- und Obstgarten rund um das renovierungsbedürftige Gebäude, ein altes Knechtshaus, hatte sie gereizt. Da ihr Sohn Tobias in München studierte und kaum noch nach Hause kam, reichten ihnen die vier Zimmer. Jenny, die Tochter, stand damals kurz vor dem Abitur. Eine völlig neue Wohnumgebung passte zwar nicht in ihre Pläne, sie war aber noch für einige Monate mit aufs Land gezogen.

      Inzwischen hatte sie ihr Studium aufgenommen – in Friedensberg – und war zu ihrem Freund in eine dortige Studi-WG gezogen. Kellert mochte diesen Mike nicht besonders. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Und die Konsequenz nach sich zog, dass sich auch Jenny nicht mehr oft bei ihnen blicken ließ. Ihr Zimmer hier in Polzingen stand ihr jedenfalls weiterhin zur Verfügung. Aber sie war inzwischen von einer Mitbewohnerin zu einer Besucherin geworden.

      „Jetzt könntet ihr euch doch eigentlich einen Hund anschaffen, Paps!“, hatte Jenny bei einem ihrer letzten Besuche vorgeschlagen. „Platz ist genug, er würde euch ein bisschen auf Trab halten und“ – sie grinste schnippisch – „ihr müsstet Tobias und mir nicht mehr so nachtrauern.“

      „Von wegen trauern“, hatte Bernd Kellert grimmassierend geantwortet, aber im Wissen, dass er nicht ganz aufrichtig war: „Froh sind wir, froh! Endlich Zeit für uns selbst! Da werden wir einen Teufel tun und uns einen Hund anschaffen. Dann bist du ja wieder gebunden. Dafür sind wir ja auch viel zu viel unterwegs. Ein Hund braucht seine festen Bezugspersonen, und die müssen auch für ihn da sein. Nee, nichts da! Abgesehen davon, dass ich Hunde ja auch nicht wirklich mag. Sie sind mir irgendwie zu anhänglich. Zu treu. Zu formbar.“

      In einem hatte Jenny jedenfalls Recht: Für ihre Eltern bedeutete diese Zeit einen einschneidenden Prozess der Umgewöhnung. Zwanzig Jahre lang waren sie in wesentlichen Teilen ihres Lebens Vater und Mutter gewesen. Das blieben sie nun auch weiterhin, aber es bestimmte den Alltag fast gar nicht mehr. Das erlaubte tatsächlich neue Freiheiten, aber die mussten erst einmal erkannt und positiv gefüllt werden.

      Für viele Bekannte der Kellerts war diese Phase des Umbruchs eine schwierige Zeit. Einige Kollegen hatten sich nach langjähriger Ehe scheiden lassen. Ohne die Kinder blieb einfach zu wenig Gemeinsames. Auch zwei Freundespaaren der Kellerts war es in den letzten beiden Jahren so ergangen. Und die Freunde forderten immer Parteinahme ein. Sie, ihre Freunde, sollten sich für das jeweilige Gegenüber, gegen die ehemalige Partnerin oder den ehemaligen Partner entscheiden. Aber wie sollte man das machen, wenn man beide mochte? Sie hatten folgende, wenig originelle Lösung gefunden: Beate blieb in Kontakt mit den Frauen, Bernd mit den Männern. Aber das war letztlich unbefriedigend. Die Beziehungen bröckelten mehr und mehr ab. Denn auch für die meisten der Betroffenen waren diese Neuaufbrüche nicht einfach.

      Neuaufbrüche gab es auch bei ihnen, nicht nur im Blick auf den Umzug. „Und wir, Bernd?“, hatte Beate eines Abends gefragt, als sie sich mit wenig Anteilnahme eine blödsinnige Fernsehshow anschauten. „Was ist mit uns?“ Bernd Kellert hasste solche Gespräche. Wann immer möglich, versuchte er sie zu vermeiden. Er musste schon in seinem Beruf ständig im Leben anderer Menschen herumwühlen, Tiefenschichten freilegen, Verborgenes und Abgründiges an die Oberfläche bringen – da wollte er wenigstens zu Hause seine Ruhe haben. Psychologische Selbsterforschung? Komplizierte Partnergespräche? Wenig ertragreicher, immer wieder gleicher Austausch über das Leben der Kinder? – Bitte nicht!

      „Beate das passt doch so“, hatte er gesagt und es auch so gemeint. „Ruhige Wasser, ich weiß. Aber brauchst du“ – er suchte nach einem Bild – „den ständigen Reiz der Sturmfluten? Ich nicht, dazu bin ich zu … zu müde. Ich bin einfach froh, in einem sicheren Hafen zu sein. Der die Stürme abhält. Lass uns den Hafen pflegen bitte!“ Seine Frau hatte ihn lange angeschaut. Dann genickt.

      Ein bisschen mehr Spiel der Gezeiten, ein bisschen mehr Dynamik von Ebbe und Flut wäre Beate Kellert


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