Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst
das Recht heraus, an Dienstbesprechungen teilzunehmen, fuhr seinen eigenen Kurs mit seinen Lieblingsalumnen, die er um sich scharte, und …“
Er verstummte, überlegte offensichtlich, ob er noch etwas hinzufügen sollte. „Das reicht, Günther!“, mahnte ihn der Subregens. Dietz überlegte kurz, und fast als wäre er durch diesen Einwurf herausgefordert, sprach er dann doch weiter: „Ja, man konnte sich eben nie ganz sicher sein, was er wem weitererzählte. Früher war das klar: Interna aus Dienstbesprechungen bleiben unter uns. Es muss einen geschützten Raum der Verschwiegenheit geben, wo man Dinge auch mal etwas scharf aussprechen darf. Und seit Rühle da ist, können wir uns darin eben nicht mehr sicher sein.“ Arenhövel kniff die Lippen zusammen, nickte aber langsam.
Kellert blickte die beiden Pfarrer an. „Nun, mit diesem Herrn Rühle werden wir uns dann sicherlich noch zu beschäftigen haben. Danke für Ihre Auskünfte und Ihre Offenheit. Je besser wir die Lage einschätzen können, umso eher werden wir den Fall lösen. All das bleibt selbstverständlich unter uns. Komm, Dominik.“
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Kellert und Thiele spazierten ziellos durch die Ringanlage, die sich um die Altstadt Friedensbergs zog. Früher war die Stadt von einem Schutzwall mit Wassergraben umgeben gewesen. Im neunzehnten Jahrhundert war die Schutzfunktion längst obsolet geworden. Man hatte die Anlage geschliffen und daraus einen Park gemacht, eine grüne Lunge, die seitdem die Innenstadt von Friedensberg umschloss. Kurz vor Mittag war hier nicht viel los. Einige alte Frauen saßen auf den Bänken, in gemächliche Gespräche vertieft. Ein älterer Herr streute Brotkrummen aus, um die Tauben und Spatzen zu füttern. Ein würziger Frühherbstduft lag in der Luft.
Der Kommissar versuchte seine Gedanken zu ordnen. „Wenig Verwertbares, scheint mir“, knurrte er. Von der kriminaltechnischen Untersuchung war ein weiterer Zwischenbericht gekommen, der letztlich keinerlei hilfreiche Erkenntnisse brachte. Zu viele allgemeine Spuren, zu wenig Konkretes. „Ein Haus voller Spannungen ist das“, meinte Thiele. „Also das wäre nun wirklich nichts für mich. Da kann jederzeit etwas hochkochen. Aber so viele Männer so eng auf einem Haufen! Erstaunlich, dass da nicht viel häufiger etwas passiert … oder dass wir es zumindest nicht erfahren.“
Kellert hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Irgendwie wirkte er abwesend. Als sei er nicht ganz bei der Sache. Er blickte grübelnd zu den bunt gefärbten Kronen der mächtigen alten Kastanienbäume auf. In diesem trockenen Jahr hatte sich das Laub früher verfärbt als sonst üblich. Einzelne stachelige Fruchthülsen lagen bereits aufgeplatzt auf dem Boden. Dazwischen blitzende braune Kugeln. Mit schwungvollem Fußtritt beförderte er eine in das Gebüsch. Noch eine. Die innere Unzufriedenheit war ihm überdeutlich anzusehen. Thiele schwieg, schielte zu seinem Chef hinüber. ‚Komm, Bernd Kellert, bleib am Fall! Zeig deinen Biss!‘, ermahnte sich dieser.
„Okay“, meinte Kellert nach einigen weiteren Wegmetern, nun mit Entschlossenheit. „Ich werde jetzt erst mal etwas essen gehen. Und heute Nachmittag spreche ich mit diesen Hausschwestern im Priesterseminar. Frauen haben ja doch immer noch einen anderen Blick auf die Dinge. Vielleicht kriege ich da ein bisschen mehr heraus. Mal sehen, eventuell ergibt sich auch ein Gespräch mit den Jungs, die dort wohnen.
Und du“ – er blickte erst auf seinen Mitarbeiter, dann auf den Notizblick in seiner rechten Hand – „findest mal heraus, wo sich dieser geschasste Seminarist, dieser Brunnhuber, befindet. Vielleicht sprichst du auch schon mal mit ihm, wenn du ihn antriffst. Und check mal ab, wie man diesen Domkapitular Dr. Soundso erreichen kann. Der Sache möchte ich auf jeden Fall nachgehen. Soll keiner sagen, wir gäben uns keine Mühe!“
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„Schwester Luitgard, danke, dass Sie sich die Zeit nehmen!“ Kellert saß mit der für das Priesterseminar Friedensberg zuständigen, sicherlich siebzigjährigen, aber außerordentlich rüstig und geistig wach wirkenden Oberschwester in einem kleinen Garten, der sich versteckt in dem unübersichtlichen Gebäudekomplex verbarg. „Dort können wir ungestört reden“, hatte sie nach der gegenseitigen Vorstellung erklärt, „denn das ist allein unser Refugium. Und das unserer Gäste natürlich. Aber normalerweise sind wir Ordensschwestern da ganz unter uns. Und man sitzt da wirklich schön.“
So war es auch. Die auf allen Seiten drei Stockwerke hoch aufragenden Gebäude sorgten zwar für viel Schatten, trotzdem gab es eine kleine, von einem Wandelweg umsäumte Rasenfläche, mehrere halbhohe Büsche, einige abgeerntete oder in diesem Jahr nicht tragende Obstbäume: Kirsche, Birne, Pflaume, erkannte Kellert mit schnellem Blick. Rechts wölbte sich die Rückseite der hauseigenen Kapelle, auf den anderen Seiten wuchsen Mauern fast ohne Fenster in die Höhe. Nur linker Hand blickten einige wenige kleine Fensterhöhlen auf den Hof. „Unsere Schwesternzimmer“, hatte die Ordensfrau ungefragt, aber animiert von Kellerts fragendem Blick erklärt. Ein kleiner Ort der Ruhe.
„Ich verstehe noch nicht ganz, was Ihre Aufgabe im Priesterseminar ist, Schwester“, begann der Kommissar das Gespräch, das in einer kleinen, brombeer- und weinrankenumkränzten Laube in einer der Ecken des Hofes stattfand. „Ich dachte immer, dass das ein Ort ist, in dem wirklich nur Männer sind.“ Die Ordensfrau lachte auf: „So, das haben Sie erwartet? Weit gefehlt! Es gibt hier mehrere Frauen. In der Küche sind drei Damen beschäftigt. Die Verwaltung wird fast ausschließlich von zwei ausgezeichneten Bürokauffrauen erledigt. Und was glauben Sie, wer hier putzt?“
Kellert blickte ein bisschen beschämt zur Seite. So genau hatte er all das nicht bedacht. Aber dass die Frauen – bis auf die Bürodamen – vor allem Hilfsarbeiten leisteten, fand er irgendwie erniedrigend. „Und Sie, also die Schwestern?“, fragte er nach.
„Nun, wir vier versuchen den Betrieb zu unterstützen, wo immer das möglich ist. Wir sind für den Pfortendienst zuständig, Schwester Beatrix hilft im Garten. Wir helfen aber auch bei der Buchführung oder der Liturgie. Was immer anfällt. Wir sind außerdem auch Ansprechpartnerinnen für die Priesteramtskandidaten. Rein freiwillig und wie es sich ergibt. Für manche sind wir aber bestimmt wichtiger als der Regens, der Spiritual oder der Beichtvater. Die sind eben immer auch in ihrem Amt, ob sie das wollen oder nicht. Wir sind – wie soll ich das sagen – freischwebend. Gar kein schlechter Status. So wie unser Ordensgründer, der heilige Franziskus, das gewollt hat.“
„Ach, Sie sind Franziskanerinnen?“, fragte Kellert nach, dem der Name des Ordens natürlich geläufig war. Das war es aber schon an Grundwissen. Er kannte sich in der schwer durchschaubaren Landschaft der katholischen Ordensgemeinschaften kaum aus. „Genau, franziskanische Sozialschwestern“, bestätigte die Ordensfrau.
„Und ist Ihnen diese Tätigkeit – wie soll ich das sagen – genug? Ich meine: Sie dienen hier nur den jungen Herren, die Priester werden wollen. Könnten Sie nicht anderswo viel eigenständiger arbeiten und wirken?“ „Ich sehe schon“, schmunzelte Schwester Luitgard, „Sie schätzen unsere Tätigkeit hier nicht so hoch ein. Aber die Berufungspastoral – so heißt das bei uns – ist ein entscheidendes Feld für die Zukunft der Kirche. Ohne Priester geht die Kirche ein. Und daran mitzuwirken ist eine wichtige Aufgabe. Nein: Ich habe mich hier immer am genau richtigen Ort gefühlt. – Und Sie, Herr Kommissar? Fühlen Sie sich auch am richtigen Platz?“, fragte Schwester Luitgard nach einigen Momenten, in denen jeder seinen Gedanken nachgegangen war. Kellert blickte überrascht auf. Diese Frage hatte er sich lange Zeit nicht mehr gestellt. Geschweige denn, dass sie ihm im Normalfall in seinem beruflichen Alltag von einem seiner Gesprächspartner gestellt würde. Zögerlich antwortete er: „Ja, doch … Doch, das ist schon der richtige Beruf für mich, denke ich. Natürlich wünscht man sich manchmal, nicht immer nur in die Schattenseiten des Lebens einzutauchen …“
„Eben!“, unterbrach ihn die Ordensfrau. „Genau das habe ich mir auch überlegt. Nie haben Sie es mit gelingendem Leben zu tun. Mit Harmonie. Mit einem Alltag, der einfach gut ist, so wie er ist. Immer nur mit den Extremen des Scheiterns, des Zerbrechens, des Überschreitens von Grenzen der Menschlichkeit. Also ich … ich glaube, das könnte ich nicht.“
„Man gewöhnt sich daran, Schwester Luitgard, glauben Sie es mir!“, räumte Bernd Kellert ein, wurde aber wieder von seiner Gesprächspartnerin unterbrochen, die das Thema offensichtlich innerlich berührte. „Aber ist das gut, sich daran zu gewöhnen?“, fragte