Toter Regens - guter Regens. Georg Langenhorst
überlegte kurz, stand dann auf und blickte den Gesprächspartner noch einmal aufmerksam an – ‚Doch, ich habe den schon mal irgendwo gesehen‘, ging es ihm durch den Kopf, ‚aber wo?‘ Normalerweise hatte er ein sehr gutes Erinnerungsvermögen für Gesichter und Namen, auf das er stolz war. Hier aber fiel ihm nichts ein. Er reichte dem Spiritual die Hand und verabschiedete ihn. „Vielen Dank, dass Sie sofort bei uns vorbeigeschaut haben. Wir werden uns in den nächsten Tagen sicherlich noch das ein oder andere Mal begegnen.“
„Du, Chef“, meinte Thiele, bevor sie sich auf den Weg in den Feierabend begaben. „Ich kann ja mal die Verena fragen, ob die uns etwas mehr über so ein Priesterseminar erzählen kann.“ „Mach das, es kann ja nicht schaden“, ermunterte ihn Kellert. „Aber ob die sich da auskennt, so als Frau?“
7
„Ena?“, rief Dominik Thiele fragend in die gemeinsame Mietwohnung, kaum dass er die Tür geschlossen hatte. „Bist du da?“ Seit mehr als einem Jahr wohnte er nun zusammen mit Verena Obmöller im dritten Stock dieses Neubaus in den Außenvierteln von Friedensberg. Sie hatten sich just bei jenem Mordfall kennengelernt, der ihn mit seinem Chef an die hiesige Theologische Fakultät geführt hatte. Damals war sie noch eine der dortigen Studentinnen gewesen. Inzwischen mühte sie sich durch die zweijährige Ausbildungszeit des schulischen Referendariats.
Sie hatte lange überlegt, ob sie das Angebot annehmen sollte, die wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen und eine Doktorarbeit anzufertigen. Am Ende hatte sie sich dazu entschieden, zunächst die Ausbildung zur Gymnasiallehrerin abzuschließen. „Danach schauen wir weiter. Mal sehen, was dann kommt. Das Referendariat ist irgendwie der logische Abschluss meines Lehramtsstudiums, das will ich auf alle Fälle noch machen“, hatte sie damals beschlossen.
Inzwischen war sie sich nicht mehr ganz so sicher, ob das wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Sie hatte zwar das Glück gehabt, am selben Ort wohnen zu bleiben, weil Friedensberg Sitz eines Ausbildungsseminars für Referendare des Lehramtes an Gymnasien war. Andere ihrer Mitstudentinnen oder Mitstudenten wurden trotzdem in Städte geschickt, die mehrere Stunden weit entfernt waren. Obwohl auch sie liebend gern in Friedensberg geblieben wären. Wie diese Verteilung zustande kam, war völlig intransparent. Das wusste anscheinend niemand.
Sie war „am KaRaGe“ gelandet, wie sie Dominik Thiele am Tag der Mitteilung der Einsatzschule stolz mitgeteilt hatte. Der hatte sie nur fragend angeblickt. „Na, das KaRaGe eben, das Karl-Rahner-Gymnasium Friedensberg. Das ‚Domgymnasium‘, sagen viele einfach. Altsprachliches Gymnasium. Wirklich gute Schule, irgendwie von der Kirche organisiert und trotzdem staatlich. Die beste Adresse weit und breit. Die versuchen wirklich Schule sinnvoll zu gestalten, sagt man. Ich freue mich darauf!“
„Und wer war das, dieser Karl …“, hatte Dominik Thiele gefragt, froh über ihren Enthusiasmus. „Rahner! Karl Rahner? Kennst du den etwa nicht?“, hatte sie entrüstet zurückgefragt, aber dann doch erklärend angefügt: „Der wohl wichtigste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts!“ Er aber hatte nur das Gesicht verzogen und unwissend mit den Achseln gezuckt.
Trotz der für sie glücklichen und kaum erhofften Ortszuweisung blieb ihre Zwischenbilanz nach über der Hälfte der abgeleisteten Zeit gespalten: „Das KaRaGe ist wirklich gut. Und auch die Schüler sind okay, das passt schon. Das Unterrichten macht mir Spaß, das wusste ich ja. Aber diese ganzen formalen Anforderungen im Ref! Was man da alles machen soll! Vieles hat null Komma nix mit der Praxis zu tun. Puhh …“, so hatte sie sich schon nach wenigen Wochen gegenüber Dominik Thiele beschwert.
Der hatte sich das alles angehört, ohne ihr wirklich helfen oder ihr etwas raten zu können. Einerseits hatte er das in seiner eigenen Ausbildung, in seinem Fall zum Kriminalkommissar, ganz ähnlich erlebt. Später aber durchaus entdeckt, dass er dann doch viel mehr für seine Berufsausübung gebrauchen konnte, als ihm damals bewusst gewesen war. Andererseits war Schule genauso wenig seine Welt wie Kirche. Überhaupt: Dass aus der damaligen Verliebtheit zweier ziemlich unterschiedlicher Menschen eine feste Beziehung geworden war, hatte fast alle ihre Freunde und Bekannten überrascht. Auf beiden Seiten. Aber irgendwie passten sie einfach zueinander. Dachte Verena.
Dass Verena Obmöller dann mit ihrem Freund zusammengezogen war, hatte nur noch wenige verwundert. „Ja aber: Darfst du das denn als angehende Religionslehrerin?“, hatte ihre Mutter besorgt gefragt. Doch Verena hatte nur gelacht und geantwortet: „Hey, wir leben nicht hinter dem Mond, sondern im 21. Jahrhundert. Das hat die Kirche auch gemerkt. Die Zuständigen im bischöflichen Schulamt wissen sehr wohl, wie die Welt heute tickt. Und wir haben ja auch vor, irgendwann mal zu heiraten. Wenn nichts dazwischenkommt. Also keine Sorge!“
Nun rief sie aus dem Arbeitszimmer: „Ja, ich bin da!“ Thiele streifte die Schuhe ab, öffnete einen weiteren Knopf seines Hemdes und ging hinüber: „Hi, Ena!“, sagte er mit einer ganz anderen Stimme als jener, die er sonst im Dienst gebrauchte: weicher, wärmer, höher. Er beugte sich zu ihr herunter und gab ihr einen langen Kuss. „Ich muss noch einen Stundenentwurf für morgen fertigmachen“, seufzte sie, „bin aber fast fertig. Spaghetti und Soße sind vorbereitet. Kann du sie bitte aufwärmen?“
Eine halbe Stunde später saßen die beiden an ihrem kleinen Esstisch in der dafür vorgesehenen Ecke des Wohnzimmers. Jeder hatte ein Glas Mineralwasser vor sich, und nun aßen sie langsam und genüsslich ihre Nudeln. Dass Dominik Thiele den Rest der Kochvorbereitungen getroffen und den Tisch gedeckt hatte, war normal. Denn dass er sich bei Verena nicht als Pascha und klassischer Ich-tu-zu Hause-nichts-Mann aufspielen konnte, war ihm von Anfang an klar gewesen. Verena strich sich die langen schwarzen Haare aus dem Gesicht. Aufmerksam hörte sie zu, was Dominik von seinem Arbeitstag und dem Mord im Priesterseminar erzählte. Ob er das alles so erzählen durfte? ‚Ich will ja schließlich auch etwas von ihr wissen‘, rechtfertigte er sein Vorgehen vor sich selbst.
„Den Görtler? Ja, klar kannte ich den!“, hatte sie ausgerufen, als er erwähnt hatte, wer das Opfer des aktuell von ihm bearbeiteten Mordfalls war. „Nicht gut natürlich, das Priesterseminar ist irgendwie eine Welt für sich. Wir Frauen sind dort als Gäste zwar willkommen, aber eigentlich haben wir da nichts zu suchen. So habe ich das zumindest immer empfunden. Ab und zu gab es da gemeinsame Gottesdienste in der Kapelle, da waren immer auch die Laientheologen, also die Nicht-Priester, mit eingeladen. Und da wir Studentinnen natürlich dazugehörten, waren wir eben auch mit dabei. Die, die wollten.“
„Was war er denn für ein Typ, dieser Görtler?“, wollte Dominik Thiele wissen. „Das kann ich natürlich nicht genau sagen. Ich möchte keinen Menschen so mir nichts, dir nichts beurteilen. Ich habe mit dem nie auch nur ein persönliches Wort gewechselt. Aus der Distanz kam er mir, wie soll ich sagen: ‚kalt‘ wäre falsch – sagen wir mal ‚kühl‘ vor. Immer ein bisschen offiziell. Immer irgendwie ‚Amt‘. Man kam an den nicht so richtig heran. Ich wurde aus dem auch nicht klug. Keine Ahnung, was der wirklich gedacht hat. Professionell höflich war der, klar. Seine Predigten waren gut, nachvollziehbar strukturiert, gingen auch hinein in das Leben heute. Aber … ihm ging etwas Entscheidendes ab: Wärme, die Stiftung von Nähe, die Vermittlung des Gefühls, dass er wirklich an dir als Mensch, als Person interessiert wäre …“
Sie räumten gemeinsam das Geschirr in die Spüle. Dann setzten sie sich in die Sofaecke am breiten Aussichtsfenster. Der Blick ging weit über die niedrigeren Häuser der Wohnsiedlung, über den Fluss, dann bis zu den sanften Hügeln auf der anderen Seite des geschwungenen Talkessels, in dem Friedensberg lag. Die Laubwälder auf den Hügeln glänzten noch in Mattgrün, in das sich inzwischen aber bereits merklich das helle Gelb des Herbstes, ab und zu auch ein Orangeton oder sogar ein dunkles Rotbraun mischten. Verena Obmöller hatte ihre Füße auf dem Sofa ausgestreckt, ihr Kopf ruhte auf dem Schoß ihres Freundes. Sie nahmen den zuvor verlassenen Gesprächsfaden wieder auf. Ab und zu griff sie zu ihrem Glas Mineralwasser, er hatte sich inzwischen aus dem Kühlschrank ein Bier geholt.
„Regens, der Regierende“, erklärte Verena gerade, „das ist eben die alte Bezeichnung für den Chef des Priesterseminars. Und wie die Kirche nun einmal so ist, solche alten Begriffe werden natürlich gepflegt. Klingt aber doch auch irgendwie toll, oder? Na, und der Subregens ist halt sein Stellvertreter, der zweite Mann im Betrieb. Wie die sich die konkrete Arbeit aufteilen,