Die Eucharistie als Opfer der Kirche. Michael Hesse
sind.239 Die Perspektive, die der Laacher Abt für das Denken Casels gibt, richtet den Blick auf die Anfänge des Christentums und besonders auf die Form und den Inhalt der Liturgie. Sie ist Ausdruck des Wesens des Christentums, des Lebens Christi in den Getauften, d.h. der Umbildung des Christen zu einem ‚anderen Christus`. Schilsons Analyse der Abhängigkeit zwischen Herwegen und Casel in dieser Fragestellung zeigt, dass Gedanken Casels in den Schriften seines Abtes auftauchen, aber Herwegen eine vermittelndere und ausgleichendere Position der Mysteriengedanken einnimmt.240
Dem Denken Herwegens und Casels ist Romano Guardini verbunden. Dieser unternimmt, durch Casels Mysterientheologie inspiriert, einen eigenen Versuch, in der Kategorie des Mysteriums zu denken. Es zeigen sich dabei einige Differenzen, nach einer Zeit des Austausches dann auch Annäherungen. Worum es dabei geht, hat wiederum Arno Schilson dargelegt, auf den wir nochmals zurückgreifen: Guardini bestimmt im Sinne Casels die Liturgie als Einbindung in Christus. Die Liturgie ist hier Selbstausdruck des Menschen, aber sie ist nicht vollkommener Besitz des Menschen. In ihr ist nur die Möglichkeit gegeben, den Abstand zwischen Sein und Sollen überbrückbar zu machen. Die Eucharistie wird bei beiden Theologen als die heilshafte Vergegenwärtigung des Christusereignisses gesehen, so dass von der Identität des realen Ereignisses gesprochen werden kann. Einigkeit besteht somit in der Sichtweise des Mysteriums als kultisch-liturgische reale Vergegenwärtigung des einmalig Geschichtlichen, so dass nicht von Verdoppelung gesprochen werden kann. Eine unterschiedliche Auffassung zwischen Guardini und Casel liegt hingegen beim Verständnis der Gegenwart des geschichtlich Vergangenen im antiken Mysterium.241
Die Gemeinsamkeiten zwischen Casel und Guardini lassen sich in drei Punkten zusammenfassen. Zunächst ist das Bewusstsein der Kulturwende zu nennen, die mit einer Hinwendung zum antiken Denken und dem Vorrang des Objektes bzw. des Logos einhergeht. Ein weiterer Punkt ist das christozentrische Kirchenverständnis als corpus Christi mysticum. Durch dieses „Neuerwachen der Kirche“ tritt an die Stelle privater Frömmigkeit die objektiv-gemeinschaftliche Frömmigkeit. Letztlich begreifen beide Theologen die Mitte des Christentums von der praktizierten liturgischen Feier her, als der Vergegenwärtigung der Heilstat Christi. Dennoch bleiben Unterschiede zu Casel bestehen, denn Guardini bezieht durchaus die Philosophie und Kultur seiner Zeit in seine Überlegungen ein. Damit soll die subjektive und objektive Grundhaltung philosophisch-phänomenologisch verdeutlicht und grundgelegt werden. Im Bereich der Liturgie setzt Guardini auf Bildung, damit der liturgische Gedanke nicht losgelöst wird von kirchlicher Gemeinschaft. Auch die Gemeinschaft der Kirche hat bei Guardini einen fundamental anderen Stellenwert, denn er bezieht allgemein-soziologische und auch pastoral-pädagogische Überlegungen ein.242
Die Gedanken Odo Casels sind für Anton Mayer, Mitherausgeber des „Jahrbuches für Liturgiewissenschaft“, Grundlage für dessen eigene analytische Untersuchungen zu Liturgie und Kunst, die uns hilft, die Mysterientheologie in ihrer Entstehungszeit einzuordnen. Mayer baut seinen Ansatz auf seine Annahme, dass man den Geist einer Epoche an Kunst und Liturgie ablesen kann. Demnach definiert er zwei Epochenwellen: Die Begegnung von Antike und Germanentum, als Übergang von der Romanik zur Gotik und der kulturelle Umbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Den Übergang der Romanik zur Gotik charakterisiert Mayer als das Eindringen des germanisch Subjektiven ins antike Objektive. Z.B. bedeutet dies für das Symbolverständnis, dass das Symbol als Sinnträger und als kultisch gefeiertes Mysterium subjektiviert wird, und so individuelle Mystik fördert. Der „Geist der Gotik“ bestimmt ab dem 12. Jahrhundert die geschichtliche Entwicklung durch Individualismus, Subjektivismus und Ethizismus. Mayer sieht die Scholastik, inklusive der Flucht aus der kultischen Gemeinschaft in private Frömmigkeitsformen, als den theologischen Ausdruck des Zeitgeistes, der bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts prägt. Danach findet er in Philosophie, Literatur und Kunst einen Um- und Aufbruch, denn er entdeckt ein Verständnis eines Symbols, in dem das Natürliche der objektive Ausdruck eines dahinter stehenden geistigen Gehaltes ist, also die Hinwendung zum Objektiven. Zugleich ist damit das Unverfügbare anerkannt. Dass zugleich das Kirchenbild „Kirche als Leib-Christi“ zu diesem Zeitpunkt in den Fokus rückt, wertet Meyer als Indiz für den Umbruch auch auf theologischem Gebiet.243
Wir sehen, dass Casel mit seinen innovativen theologisch-liturgischen Gedanken eingebunden ist in eine Zeitströmung, wir wollen darum dazu übergehen, grundlegende theologische Prämissen in Casels Denken vorzustellen.
4.2 Theologische Prämissen und Normativität des Urchristentums
Nachdem wir kurz drei theologische Zeitgenossen Casels benannt haben, zeigt sich, dass man durchaus vom Aufkommen einer neuen Denkform sprechen kann, die mit dem Anspruch aufwartet, die Fragen der Zeit anzugehen. Casel selbst will ein radikal erneuertes Denken in der Theologie einführen, das dennoch keinen Bruch mit der Tradition der Kirche darstellen soll. Sein Anliegen ist es, eine Korrektur der Themen und ihrer Lösungen herbeizuführen, die seiner Auffassung nach über die Jahrhunderte hinweg verzeichnet worden sind, womit in erster Linie die scholastische und neuscholastische Theologie gemeint ist. Er will so zu einer gesteigerten Treue zu den Wurzeln des Christentums gelangen, um die Bedeutung des Christentums in der kritischen Epoche des 20. Jahrhunderts herauszustellen und prägnant christliches Sein und Wesen profilieren. Sein Ansatz basiert dabei auf radikaler Christozentrik. Diese Fokussierung auf Christus, als schlechthin das Wesentliche des Christentums, hat im Hintergrund zugleich einen starken Blick auf eine christliche Anthropologie. Casels Suchen gilt dem Bleibenden bzw. der Erneuerung christlicher Identität. Die Scholastik und Neuscholastik wirken für ihn abstrakt und lebensfeindlich. Seine Welt ist dagegen die praktische Wissenschaft der Christusbegegnung in der Liturgie, die er nicht systematisch darlegen will. Vielmehr geht es ihm um die Person Christi selbst, um diese Person für den Menschen und die Grundbestimmung des Christseins zu erschließen.244
Das Zurückkehren zu einem ganzheitlichen Verständnis der Theologie besteht für Casel auch darin, die nachtridentinischen Messopfertheorien zu verwerfen.245 Die theologische Strömung am Beginn des 20. Jahrhunderts richtet den Blick zurück zur altchristlichen Theologie und geht einher mit einer allgemeinen Vorliebe für die antike Art der Weltbetrachtung. Hier liegt ein Fundamentpunkt Caselscher Theologie: die normative Kraft des Anfangs inklusive der patristischen Zeit, denn gerade diese Anfänge zeigen eine Wertschätzung antiken Denkens. Das Urchristentum erhält bei Casel Normativität, der die nachfolgenden christlichen Jahrhunderte zu genügen haben. Sein Maßstab und seine Norm sind und bleiben fortan das patristische bzw. das antike Denken. Germanentum und gotische Zeit setzt er hingegen mit einem Identitätsverlust für das Christentum gleich. Der christliche Ursprung besitzt wegen seiner Freiheit von Weltgeschichte, die Casel als Belastung des christlichen Glaubens wahrnimmt, diese normative Funktion. Das Urchristentum ist sozusagen der Prüfstein für Casel, wie Schilson schreibt, auf dem die spätere Theologie erst bestehen muss, wenn auch sie Geltung haben soll. Das Urchristentum wird frei von Kontingenz gesehen und ist zugleich unmittelbar dem Offenbarungsereignis Gottes in Christus nahe, was dem Anfang weitere theologische Dignität zusteht. Schilson weist daraufhin, dass es sehr problematisch ist, dass Casel späteren epochalen Denkformen jedwede Würdigung verweigert, zumal dies zwangsläufig Konsequenzen für spätere Prägungen und Erkenntnisse hat. Die Welt bzw. Weltgeschichte bedroht im Denken Casels geradezu das Christentum und wird nicht als dessen positive Herausforderung verstanden.246
Wie geht Casel nun mit den Vätertexten um, wenn sie solche Normativität zugestanden bekommen? Es zeigt sich, dass Casels Lesart der Vätertexte seine Kritiker auf den Plan ruft. Ein Vorwurf (z.B. Betz) richtet sich gegen die ungenaue und unsaubere Exegese der Texte, da sie die Gefahr sehen, dass Casel die Aussagen der Väter in die eigene Lesart einebnet.247 Casels Anliegen ist es, eine Wiederbelebung der ganzheitlich-pneumatischen Denkweise der Kirchenväter zu erreichen und zu propagieren, d.h. die Rede aus Gott über Gott neu zu beleben. Dabei weist er modernen wissenschaftlichen Methoden lediglich dienende Funktion zu. Jedoch will er keine unreflektierte Hinüberrettung patristischer Vorgehensweise vertreten, sondern vielmehr innere Wesensmerkmale stärker beleuchten, die dem Wandel theologischen Forschens standgehalten haben. So wird ein ganzheitlichbildhaftes Denken proklamiert. Casel fordert eine Gnosis248, im Sinne von Erfassen durch theologische Einsicht, mit dem Ziel in die Glaubenswahrheiten einzutauchen.