Die Eucharistie als Opfer der Kirche. Michael Hesse
Tun an und damit zugleich als praktische Wissenschaft, weil sie durch den Vollzug ermöglicht, zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Casel baut in diesem Gedankengang wiederum auf Platon auf291, und koppelt drei Kategorien, nämlich die des Mythischen, des Symbolischen und des Dramatischen an- und ineinander, um sie in seiner Denkform untrennbar zu verbinden. Konkret meint dies: Mythos wird im Kult gelebt bzw. Kult ist lebendiger Mythos. Der Mythos verweist zurück auf das Symbolische des Kultes. Hier meint Casel den urchristlichen Symbolbegriff, dass nämlich im Symbol die Wirklichkeit aufscheint. Der Mythos beinhaltet in seinem Symbolcharakter die Urzusammenhänge bzw. Urwirklichkeiten, die im Kultischen, d.h. dramatischen „Spiel“ erfahren werden. Die drei Kategorien beschreiben somit die ganzheitliche Auffassung einer symbolischen Handlung. Die Teilnehmer der sakramentalen Handlung öffnen sich für die darin vermittelte Wahrheit. Man kann sagen, dass Liturgie und Sakrament für Casel das Zentrum des Christseins bilden. Das Prinzip „lex orandi – lex credendi“ beschreibt dabei die praktische Ausrichtung Caselscher Theologie. Die kultische Praxis bildet für ihn die normative Quelle für die christliche Wahrheit. Dennoch hat umgekehrt die Glaubenslehre normativen Charakter für das liturgische Tun, da das liturgische Tun an den Glauben gebunden sein muss.292 Um das Denken und die Theologie des Liturgikers Casel noch genauer verstehen zu können, müssen wir, gerade im Hinblick auf die Opferthematik, sein Liturgieverständnis noch genauer ergründen.
5.2 Liturgie als Opus Dei zur objektiven Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens
Die Liturgie ist für Casel durch Objektivität ausgezeichnet. Er sieht sie vom Grundgedanken her als „Opus Dei“, d.h. als Gottestat (Theurgie). Besonders bei den Sakramenten hat er diese Sicht, denn dem Menschen wird darin eine Form angeboten, in die er sich hineingeben kann. Im Sakrament ist die Heilstat Christi, wie etwa in der Eucharistie der Opfertod, objektiv und sachlich gegenwärtig. Sie ist logisch-sachlich vor dem Mitdenken und Mitleben der Gläubigen, fordert jedoch deren Mittun. Es existiert demnach die Möglichkeit für ein Mitwirken des Menschen im sakramentalen Heilswerk. Das geforderte Mittun findet Casel analog schon in den heidnischen Mysterien. Die tätige Teilnahme im Heilswerk Christi versteht er passiv, da sie vom Herrn am Gläubigen gewirkt wird. Das aktive Tätigkeitsmoment findet sich jedoch zugleich dort und insofern Casel es eben auf jene Handlung bezieht, durch die an der Heilstat Christi teilgenommen wird. Dem göttlichen Handeln am Menschen soll in dieser Denkform das vom Menschen in Gott gnadenhaft vollzogene Mittun entsprechen, d.h. dem opus operatum soll das opus operantis entsprechen. Das Gotteswerk der sakramentalen Liturgie setzt in dieser Theologiekonzeption die Aktivität für die menschliche Freiheit frei, sich im liturgischen Handeln das ihr ermöglichte Betätigungsfeld auszufüllen. Gott und Mensch sieht Casel als Mitarbeiter, ein Ansatz aus der analogischen Analyse antiker Mysterien: Gott ist der Träger des liturgischen Spiels, die Menschen werden Mitspieler. Auch der platonische Kontext begünstigt diese Konzeption. Auf den christlichen Kult bezogen, unter Berücksichtigung der radikalen Christozentrik und Theozentrik bei Casel, heißt dies, dass der eigentlich Handelnde Gott ist und bleibt. Das Sakrament ist „Opus Dei“, das sich der Mensch zunächst nur gefallen lassen kann. Die christliche Liturgie ist zunächst einmal ganz auf das Christusmysterium ausgerichtet, die in sich göttliche Heilstat ist.293
Zugleich beinhaltet die Liturgie für Casel jedoch zugleich eine ungeheuere Anthropozentrik. Die Liturgie erfasst sozusagen den ganzen Menschen in seiner je eigenen Lebenssituation und verwandelt ihn durch und in Christus.294 Der Mensch wird demnach in der Liturgie in das Heilgeschehen hineingenommen. Welche Rolle bekommt dieser dadurch zugewiesen? Hier zeigt sich für unser Thema Eucharistie als Opfers der Kirche ein erster denkbarer Ansatz, den wir aber an dieser Stelle noch nicht weiterverfolgen wollen, sondern uns erst noch mit grundsätzlichen Gedanken Casels befassen.
Da Casel der Scholastik wenig abgewinnt, richtet sich sein Blick auf die Väterzeit. Der dort gebräuchliche Begriff „Mysterion“ ist einer der Zentralbegriffe seiner Denkform, wie wir zuvor schon feststellten. „Mysterion“ bezeichnet in der frühen Kirche die liturgische Vergegenwärtigung der gesamten Heilsgeschehnisse. Dabei fasziniert Casel die darin enthaltene Weite und Wirklichkeitsfülle, was ihm einen Weg aufzeigt, wie er die mittlerweile komplementär verstandenen Begriffe „Sacramentum“ und „Mysterion“ in Beziehung setzen könnte. Die ganze Liturgie begreift er darum fortan als Mysterium in umfassendem Sinn, wobei sein Augenmerk auf den sacramenta maiora liegt.295
Welche Bedeutung kommt also den besonderen Zeichen der Sakramente innerhalb der Mysterientheologie zu?
5.3 Liturgie zur Vergegenwärtigung des Heilsgeschehen Christi
Vom platonischen Bilddenken herkommend, versteht Casel die Liturgie im Allgemeinen und die Sakramente im Besonderen als sichtbare Symbole der unsichtbaren Heilstat, so wie Christus selbst das sichtbare Symbol des unsichtbaren Gottes ist. Sakramente sind somit Real-Symbole bzw. die Mysteriengegenwart des Heils in Christus. In den Sakramenten findet sich ein Drama, ein heiliges Spiel, in dem die Empfänger Mitspieler sind,296 wie wir zuvor schon bei Casel sahen. Mit dem Begriff der Mysteriengegenwart bezeichnet Casel die Möglichkeit der Reaktualisierung der Heilsmysterien in der Liturgie. Zur Erinnerung: Die Mysteriengegenwart meint eine vom Menschen unabhängige Gegenwart, die eine reale Wirklichkeit in der Gegenwart ist. Es geht dabei nicht um eine historische Wiedergestaltwerdung eines vergangenen Heilsereignisses, sondern um die sakramentale Gegenwärtigsetzung eines historischen Heilsereignisses. Darum wird unterschieden zwischen „historisch-real“ und mystisch-real.297 Das Mysterium gliedert sich folglich auf in Christusmysterium und Kultmysterium, wobei das Kultmysterium die Verleiblichung des Christusmysteriums darstellt und eine innere Verbindung impliziert.298
Unter dem Christusmysterium versteht Casel zunächst einmal die Ur-Heilstat Christi, wobei seine platonische Verstehensweise in die Lesart der paulinischen Schriften hineinspielt. Die heilsgeschichtlichen Handlungen sind Urbilder mit ewiger Bedeutung und werden nicht in geschichtlicher Kontingenz, sondern in seinsmäßiger Notwendigkeit gesehen. Die sakramentale Symbolhandlung ermöglicht das Gleichzeitigwerden mit der in der Ewigkeit Gottes existierenden Urheilstat Christi. Bei der liturgischen Feier des historischen Christusmysteriums wächst im feiernden Menschen der Bezug zum Christus des Glaubens. Casel versucht also auf liturgisch-mysteriologischer Ebene die Brücke zwischen dem historischen Christus und dem Christus des Glaubens zu spannen.299 Das Kultmysterium ist die rituelle Wiederhinstellung und Darstellung des einen Christusmysteriums. Somit stellt dieses Kultmysterium ein Mittel dar, um dem Christ das Leben im einmaligen Christusmysterium zu ermöglichen und als „Mittäter“ hineinzutreten. Daher sieht die Denkform Casels die Liturgie notwendig für die Wiederhinstellung der Ur-Heilstat. Durch liturgisch-rituelles Handeln kann die Heilstat Christi objektiv vollzogen werden. Casel versucht so, das eigentliche Wesen eines Sakramentes darzustellen. Der Weg, den er einschlägt, versteht allein die Verbindung von Mysteriologie und (patrologischer) Christologie als die einzige Möglichkeit dazu. Das Problem, das dabei heraufbeschworen wird, charakterisiert Schilson als eine Zweistufen-Christologie, da Casel im Sakrament allein die Verbindung mit dem verklärten Christus gelten lässt, jedoch nicht den historischen Christus im Mittelpunkt der Liturgie sieht. Damit verliert der geschichtliche Christus in seiner Denkform massiv an Bedeutung.300
An dieser Stelle können wir als Zwischenresümee zusammenfassend eine dreifache Herkunft und Bedeutung des Wortes „Mysterium“ systematisch festhalten: 1. Gott selbst ist Mysterium als der unendlich Ferne und Heiligste und immer Verborgene. 2. Mysterium meint das persönliche Mysterium des Gottmenschen301 Jesus, in dem Gottes Sein im Fleisch geoffenbart wurde. 3. Mysterien sind die Zeichen, in denen Christus seine Heilstat unter einem Symbol gegenwärtig und zugänglich hinstellt. „Mysterium“ hat somit einen theologischen, heilsgeschichtlichen und kultischen Bedeutungsinhalt.302 Gerade die letzte, dritte Bedeutungsweise von „Mysterium“ bezieht Casel gezielt auf die christlichen Sakramente. Im sakramentalen Abbild der Ur-Heilstat Christi ist diese selbst pneumatisch, d.h. als Geschichte mit Ewigkeitswert zugegen. Casel gesteht nur den Lebensabschnitten des historischen Jesus Bedeutung und das Gegenwärtigwerden zu, die er als heilsrelevant