Abenteuer Musik. Clemens Kühn
rel="nofollow" href="#ubc02a709-450a-5950-bad9-82cbe9fa3fa2">Muss man Neue Musik mögen?
Zwischenruf Hingabe und Abstand
20 Musik im geschichtlichen Wandel – Eine Zusammenschau
Anhang: Eine kleine Begriffskunde
Ein Brief an die Leser
Dresden, im März 2018
Liebe Leser,
ein ungewöhnliches Buch darf auch ungewöhnlich beginnen: Ich möchte Ihnen mit diesen Zeilen in persönlicher Form etwas erzählen zum Hintergrund und zum Anliegen meines Buches. Der Anstoß dazu kam völlig unerwartet. Für die gymnasiale Oberstufe hatte ich vor einigen Jahren ein Heft mit dem Thema Musiktheorie verfasst. Eine Musikpädagogin schrieb eine insgesamt positive Bewertung. Sie schloss mit dem Satz: »Oberstufenschüler können sie [die Erklärungen des Heftes] gewinnbringend nutzen.« Dem Satz ging aber diese Bemerkung voran, die mich geradezu elektrisierte: »Natürlich gilt auch hier: von Musikern für Musiker, d. h. Laien können mit den Erklärungen nicht viel anfangen.« Die Bemerkung der Kollegin bringt die Herausforderung auf den Punkt: Ein Buch über Musik, das auch Nichtmusikern zugänglich sein möchte, muss tatsächlich für sie und ihre Welt geschrieben sein. Das Ergebnis halten Sie gerade in Ihren Händen.
Das vorliegende Buch, das von »klassischer« Musik handelt, setzt keine spezifischen Kenntnisse voraus. Alles, was als unbekannt anzunehmen ist, wird erklärt; wesentliche Begriffe werden zudem im Anhang definiert. Hinzugefügte Erklärungen stehen, etwas kleiner gedruckt, in eckigen Klammern. Immer geht es in diesem Buch um den Sinn von Musik statt um bloße Sachverhalte. Die italienische Vortragsanweisung Allegro beispielsweise ist doppelsinnig. Sie bezeichnet ein Tempo: schnell, zugleich auch eine Haltung: heiter.
Musik findet aber nicht auf dem Papier statt, sondern im Erklingen; auf Musikbeispiele, die zum Hören empfohlen werden, weist das Symbol
Die Fülle inhaltlicher Fragestellungen führt meinen Text zu einer besonderen Präsentationsform: zu einer Abfolge von 20 thematischen Stationen, in sich geschlossenen Einheiten, die man unabhängig voneinander aufsuchen kann. Sie lassen sich, da im Umfang überschaubar, auch einmal besuchen, wenn man nicht so viel Zeit hat. Aufgelockert werden die Stationen durch einige Zwischenrufe, knappe Texte, die einen bestimmten Gedanken anstoßen und auch zu allgemeinen Fragen hin weiten, die sich in Musik spiegeln.
Professionelle Musiker und musikalisch nicht Vorgebildete, aber an Musik Interessierte gab es immer schon, und der musikalische »Dilettant« war früher ein durchaus achtungsvolles Etikett. Das 18. Jahrhundert benutzte eine spezielle Kennzeichnung: Es sprach vom ausgebildeten Kenner und vom musikalischen Liebhaber. Carl Philipp Emanuel Bach, der älteste Sohn von Johann Sebastian Bach, komponierte seine Sammlungen von Klavierstücken (1779–1787) »für Kenner und Liebhaber«; unausgesprochen setzte er damit seine Stücke ab von den »gelehrten« Werken seines Vaters. Wolfgang Amadeus Mozart schrieb in einem Brief zu dreien seiner Klavierkonzerte, dass sie »sehr brillant seien, angenehm in die Ohren, natürlich ohne in das Leere zu fallen«, und dass »Kenner allein«, aber auch – ein eigenwilliges Wortspiel – »die Nichtkenner damit zufrieden sein müssen«, mit dem tiefsinnigen Zusatz »ohne zu wissen warum«.
»Wissen warum«, gepaart mit Erleben, ist das Anliegen meines Buches. Abenteuer Musik zielt weder auf eine Gesamtdarstellung – das wäre überzogen –, noch ist es reduziert auf eine Elementarlehre – das wäre mager. Es bietet verschiedene Aspekte an, um in deren Summe eine vielschichtige Erfahrung von »Musik« entstehen zu lassen. Dabei versucht es, alles so verständlich und anschaulich darzustellen, dass der eingangs zitierte Satz der Kollegin wiederkehren kann, ohne sein »nicht«: »Laien können mit den Erklärungen viel anfangen.« Und wunderbar wäre es, ließe sich Mozarts Äußerung hier umstellen: dass nämlich »die Nichtkenner allein« damit zufrieden sein können, aber auch die Kenner, kurz: auf Musik Neugierige.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Entdeckungsreise!
P.S. Einen Dankesstrauß überreiche ich Doro Willerding (für die schöne Gestaltung), Tatjana Waßmann (für den sorgsamen Notensatz), Daniel Lettgen (für aufmerksame textliche Kontrolle), Manuel Gervink und Hans-Christian Jabusch (für wertvolle Überlegungen), Günther Rötter (für einen detektivischen Literaturnachweis). Danke sage ich Jutta Schmoll-Barthel, deren Lektorat seinesgleichen sucht nach Zuwendung, Umsicht und punktgenauen Anregungen. Und Ingrid Kühne danke ich dafür, dass sie das Manuskript aus der Sicht eines Nichtmusikers unter die Lupe nahm; ihre Kommentare waren so beeindruckend wie hilfreich.
1 Kunst und Leben
In der Schule durfte ich es mehrfach erfahren: Vermittlungen haben zu tun mit der Persönlichkeit, der Ausstrahlung und der Glaubwürdigkeit des Vermittlers. Der Deutschlehrer, der es verstand, so in die poetische Welt von Gedichten einzuführen, dass sie für uns Jugendliche nichts Verstaubtes mehr hatten. Der Kunstlehrer, der unsere Augen öffnete für Formen und Farben in der Malerei. Der Griechischlehrer, der keine Grammatik büffeln, sondern durch die Sprache hindurch etwas ahnen ließ von Geist und Kultur der Antike – eingebrannt hat sich mir, dass »xenos« im Griechischen »der Fremde« bedeutet, aber auch »der Gast«: Was in uns angerührt oder geweckt wird, geschieht durch die Begegnung mit Menschen. Davon handeln die zwei folgenden Abschnitte aus der Perspektive musikalischer Unterweisung, weil sie besonders anschaulich sichtbar macht, wo und wie Leben und Kunst sich berühren.
Ende der 1960er-Jahre hatte ich an einer Gewerbeschule in Hamburg St. Pauli einen Lehrauftrag. Die Klasse: etwa 20 Mädchen im Alter um die 16 Jahre, alle aus schwierigen Verhältnissen, ich als einziger Lehrer inmitten älterer Lehrerinnen, eine Stunde Musik pro Woche neben ansonsten nur hauswirtschaftlichen Fächern. Jung, unerfahren und von der Musikhochschule mit lebensfernen Empfehlungen ausgestattet, hatte ich Rosinen im Kopf: der Klasse erst einmal beizubringen, was »Sonate« und »Fuge« sind. Das ging natürlich gründlich schief, die erste Zeit war ein schieres Desaster. Dann kam die erlösende Idee, von etwas auszugehen, was keine Barrieren bietet: von Sprache. Sie ist, gleichgültig auf welchem Niveau, jedem zugänglich. So fingen wir an mit Beispielen konkreter Poesie, voran mit Ernst Jandls Sprachwitz. Wir spielten mit Sprache, mit Texten, dann auch mit Zahlen. Von da an ging es bergauf, und die bewegende Erinnerung bleibt, dass es gelang, zwei Jahre später mit der ganzen Klasse ein Konzert in der Hamburger Musikhalle zu besuchen. Es gelang, weil sich die Mädchen als Personen angenommen wussten und dadurch den Mut gewannen,