Abenteuer Musik. Clemens Kühn

Abenteuer Musik - Clemens Kühn


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Der Takt gibt die abstrakte Einheit vor, der Rhythmus bildet darin konkrete Gestalten aus. Die Taktzählung erfolgt durch Zahlen über den Takten. Jeder Takt enthält innere Zählzeiten, hier drei Viertel als Zählzeit 1, 2, 3. Und grundiert wird ein Takt durch das Metrum, im Notenbeispiel *: einen spürbaren, unterschiedlich schnellen Puls im Hintergrund der Musik; das erwähnte Zucken des Körpers bei flotten Rhythmen gibt meist, ohne dass es einem bewusst würde, das Metrum wieder.

      Ein Takt hat abgestufte Betonungen: In einem Dreivierteltakt ist die Zählzeit 1 betont, die 2 und 3 sind unbetont. Mit einer ziemlich sicheren Methode kann man deshalb eine Taktart erkennen: Im Tempo der Musik zählt man zum Beispiel innerlich 1-2-3 und betont dabei die 1; geht die Zählung auf, ist es ein Dreivierteltakt; entsprechend macht man es beim Viervierteltakt.

      Das nachhaltig Beschwingte im Walzer von Strauß wird durch den beibehaltenen Rhythmus besorgt, der zugleich die kleinen melodischen Abwandlungen verbindet: Der Rhythmus der Takte 1 bis 4 wird ständig wiederholt und bleibt noch in den nicht mehr abgebildeten Takten 17 bis 24 unverändert! Wenn ich Ihnen aber den folgenden Rhythmus aus lauter Sechzehnteln vorlege

      und behaupte, nur daraus könne man zwei verschiedene, längere Stücke machen, werden Sie das entweder für einfallslos oder für verrückt halten. Tatsächlich stammen die Sechzehntel von – Johann Sebastian Bach, und von den »zwei längeren Stücken« habe ich gerade mal den Rhythmus der ersten beiden Takte genommen. Das eine Stück bestreitet damit geschlagene 34 Takte, das andere 33 Takte. Die Stücke eröffnen Das Wohltemperierte Klavier Bachs, eine zweibändige Sammlung von Präludien [Vorspielen] und Fugen [zur Fuge siehe Station 17] in allen Dur- und Molltonarten [eine Tonart gibt den Klangraum einer Musik an, Dur und Moll ihr »Tongeschlecht«, das den Charakter mitprägt]. Die beiden ersten Präludien, in C-Dur und in c-Moll, beruhen durchgehend auf Sechzehnteln, die fließend Akkorde entfalten bzw. mit benachbarten Noten auszieren:

      Bachs Musik ist generell motorisch. Die Motorik gibt ihr einen manchmal unerbittlich wirkenden Sog. Typisch für Stücke Bachs ist, dass sie nach einer kleinen Pause beginnen, wie die erste Fuge des Wohltemperierten Klaviers, und durch diese wie einatmende Pause () das Folgende in Schwung setzen:

      Bachs Motorik ist niemals starr mechanisch; das spöttische Bild von der »Nähmaschine«, das gelegentlich für das c-Moll-Präludium benutzt wurde, geht an der Musik vorbei. Der französische Pianist Jaques Loussier (* 1934) war es, mit dem von ihm gegründeten »Play Bach Trio« aus Klavier, Schlagzeug, Kontrabass, der den rhythmischen Nerv der Bach’schen Musik traf, eigentlich müsste man sagen: freilegte. In den 1960er-Jahren veröffentlichte das Trio fünf Schallplatten Play Bach; es entdeckte in Bach gleichsam den Jazzkomponisten. Ich weiß noch, wie wir damals als junge Menschen gebannt waren vom Spiel des Trios. Es tat Bach niemals Gewalt an. Der Notentext wurde gern einfach übernommen, durch das Klavier hörbar und fühlbar gemacht in seinem rhythmischen Leben, durch den Kontrabass in der Art seines Bassfundamentes und durch das Schlagzeug in seiner inneren Erregtheit, und dann wurde der Notentext in eine – dezente – Jazz-Fassung überführt. Bachs Musik hat Swing. Dieses Erlebnis war seinerzeit atemberaubend und ist immer noch aktuell.

      Ein radikales Gegenteil von Bachs unbeirrt durchgehenden Sechzehnteln ist dieser vertrackte rhythmische Verlauf:

      Die Verwirrung ist komplett: Dreisechzehntel, Zweisechzehntel, Dreisechzehntel, Zweiachtel …: Ständig wechseln die Taktart und die Notenwerte Sechzehntel und Achtel; bis auf den letzten Takt beginnt keiner der Takte betont auf seinem Anfang, sondern nach einer Sechzehntelpause; eine Ordnung wird angedeutet (die Takte 3 bis 5 und 7 bis 9, im Beispiel mit Punkten versehen, sind rhythmisch gleich), aber wieder aufgehoben. Den gewaltigen, zuvor noch nie gewagten Effekt sieht man dem Beispiel nicht an: Das ganze Orchester spielt zusammen, zu heftigen Schlägen gebündelt, als ob es ein einziges riesenhaftes Instrument wäre. Mit solchem rhythmischen Zickzack beginnt der Schlusssatz Danse sacrale von Igor Strawinskys Ballett Le Sacre du printemps, durchweg nur Sacre genannt, dessen Uraufführung 1913 einen legendären Skandal auslöste, mit Tumulten und Handgreiflichkeiten im Publikum: Die Musik wirkte, vor allem in ihrer klanglich-rhythmischen Härte, genauso unerhört wie das Thema des Balletts: das heidnische Ritual, dem Frühlingsgott eine Jungfrau zu opfern.

      Zum Vergleich sei eine andere rhythmische Anlage dagegengehalten. Probieren Sie dieses Beispiel bitte einmal selbst aus:

      Mit der linken Hand (l) klopfen Sie fortwährend, ohne abzusetzen, gleichbleibende Pulse (), dazu dann mit der rechten Hand (r) verschobene Akzente () und zwei Schläge () pro Puls, alles zunächst langsam, dann schneller, pro Sekunde etwa vier . Linke und rechte Hand können Sie natürlich auch vertauschen, wenn Ihnen das angenehmer ist.

      Erst danach hören Sie sich den zweiten Satz des Sacre an, Danse des adolescentes. Sie hatten seine anfängliche Rhythmik umgesetzt: Das rhythmisch immergleiche entspricht den Streichern, die Akzente den acht (!) Hörnern, die verdoppelten Schläge den Fagotten [tiefe Holzblasinstrumente]. Gegenüber unberechenbaren rhythmischen Ausbrüchen kennt der Sacre auch die andere Seite: die Wucht gleichbleibender Bewegung.

      Dass »Takt« auch auf weniger drastische Weise ausgehöhlt werden kann, zeigt Musik der Romantik. Robert Schumanns Impromptu (1838), Nr. 9 der Albumblätter op. 124 für Klavier, ist aus vier Stimmen gewebt. Hier sind, untereinandergestellt, die rhythmischen Anfänge der vier Stimmen von oben nach unten:

      Die rhythmischen Zutaten selbst sind simpel. Es kommen nur vor: Achtel allein, zu zweit, zu dritt; Achtel an Achtel gebunden, mit der Dauer also eines Viertels; sowie Viertel. Ihre Taktart jedoch ist völlig unklar. Schumann notiert einen Dreivierteltakt, aber niemand hört ihn, weil alle Stimmen konsequent gegen den Takt gestellt sind. Der »Dreiviertel«-Takt hat keine musikalische Bedeutung – er kippt eher in einen »Sechsachtel«-Takt um –, sondern ist allenfalls eine optische Begrenzung und Lesehilfe. Musikalisch gemeint ist ein vom Takt gelöstes freies Fließen.

      Am Ende muss vermittelt werden. »Melodie« und »Rhythmus« agieren keineswegs unabhängig voneinander. Dafür zwei eindrucksvolle Beispiele: Der französische Komponist Charles Gounod (1818–1893) schrieb ein Ave Maria. Bei vielen ist es als kitschig verpönt – zu Unrecht: Kitschig ist nicht das Stück selbst, sondern Kitsch wurde es durch das, was aus ihm gemacht wurde. Gounod hatte den genialen Einfall, in dem rhythmischen Gleichlauf von Bachs oben zitiertem C-Dur-Präludium eine Melodie


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