Abenteuer Musik. Clemens Kühn
darüber nacheinander zwei melodische Gesten; b, ähnlich, aber jetzt abwärts schreitende Klänge daruntergelegt; c, die gleichbleibende Bewegung nun oben, die tiefste Stimme schreitet; d, liegende Klänge, darunter eine ruhige Melodik; e, Wiederkehr der Anfangsbewegung, dazu erst unten, dann oben …
Unabhängig davon, ob Sie dieselbe oder eine andere Gliederung vorgenommen haben, werden Sie zwei Erfahrungen bestätigen. Erstens bleibt zwar die musikalische Stimmung haften, aber es ist schwer, sich die Musik zu merken; am ehesten wird man die in Melodie und Rhythmus gleiche, nahezu das komplette Stück hindurch bleibende »Bewegung« erinnern. Zweitens wirkt die Reihenfolge von a bis e nicht zwingend. Der Beginn mit a ist insofern einleuchtend, als die Musik noch sehr dünn daherkommt, erst in b wird sie durch die tiefen Klänge und den geweiteten Tonraum fülliger – und doch könnte das Stück, ohne dass es jemandem als »falsch« auffallen würde, auch bei e einsteigen oder sogar mit d, um einen Klangteppich auszubreiten, und im Grunde könnten auch b und c ihre Position tauschen, ohne dass es »unlogisch« wäre.
Beide Erfahrungen ergeben sich aus einer spezifischen Eigenart der Musik: Sie hat kein gerichtetes »Vorher« und »Nachher«. Zum Vergleich: Der Anfang von Beethovens Erster Sinfonie, angesprochen in der Station 11, gestaltet die Musik als einen Verlauf hin zu der Grundtonart; dadurch erhält die Musik eine Richtung, mit einem verbindlichen »Vorher« und »Nachher«, deren Stadien nicht einfach umgestellt werden könnten. Debussys Musik funktioniert nicht so. Ein Ereignis in ihr ist keine Folge des Vorhergehenden und keine Vorgabe für das Anschließende. Es ist, wenn auch verknüpft mit seiner Umgebung, ein in sich erfüllter Moment. Theodor W. Adorno hat diese Eigenart in seiner Philosophie der neuen Musik (1948) nachdrücklich geschildert: »Das Gehör muß sich umschulen, um Debussy richtig wahrzunehmen, nicht als einen Prozeß […], sondern als ein Nebeneinander von Farben und Flächen, wie auf einem Bild. Die Sukzession [das musikalische Nacheinander] exponiert bloß, was dem Sinne nach simultan ist: so wandert der Blick über die Leinwand. Es gibt kein ›Ende‹: das Stück hört auf wie das Bild, von dem man sich abwendet.«
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