Abenteuer Musik. Clemens Kühn

Abenteuer Musik - Clemens Kühn


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aus der Mitte der Figurationen. Das folgende Notenbeispiel zeigt exemplarisch den Beginn des Ave Maria, darunter Bachs Präludium, vereinfacht notiert, die entsprechenden Töne im Präludium umkreist.

      Richard Wagner sagte über Bachs C-Dur-Präludium, in dessen »Kontinuität« liege etwas, »dem man nicht müde wird zu folgen, wie man einem Strom endlos zusehen kann.« Der »Strom« ist ein Bild für eine zäsurlose, wie unbegrenzt weiterfließende, von gleichförmigen Gliederungen freie Melodie. Wagner hatte sie in seiner Schrift Zukunftsmusik (1860) als unendliche Melodie gepriesen. Er sah dieses Ideal bei Bach vorgebildet. »Die unendliche Melodie ist da prädestiniert«, namentlich im Wohltemperierten Klavier, und dies habe ihn kompositorisch nachhaltig beeinflusst: »Das hat mir meinen Duktus gegeben, […] das hat mich bestimmt. Das ist unendlich! So etwas hat keiner wieder gemacht.« Die Zitate Wagners folgen Tagebucheintragungen seiner Frau Cosima. Was für eine grandiose Vorstellung: Bachs Bewegungen als Inbegriff von Melodie. Hören Sie sich zum Beispiel den Einleitungssatz von Bachs Matthäus-Passion an und das Vorspiel zu Richard Wagners Oper Tristan und Isolde. Die Kombination ist gewagt, da die Werke unvergleichbaren Welten und Sprachen zugehören, der Kirche und dem Theater, und doch lässt ihr Nebeneinander Entscheidendes erleben: Musikalisches Strömen hier wie dort. Unscharf wird, wer den Vorrang hat: Melodik, Rhythmik, Harmonik, alles geht ineinander auf. Zurück bleibt ein Eindruck von Größe und Unbegrenztheit.

      4 Wenn Musik sich mit anderem verbindet

      Zum Komplex »Musik und …« schrieb Helga de la Motte-Haber drei umfängliche, tiefschürfende Bücher: Musik und Bildende Kunst (1990), Musik und Religion (1995), Musik und Natur (2000). Die folgenden wenigen Seiten müssen bescheidener sein. Sie greifen drei Bereiche heraus – Sprache, Architektur, Mathematik – und richten kleine Scheinwerfer darauf, wie Musik mit ihnen zusammengeht. Die Scheinwerfer möchten versuchen, etwas einzufangen von dem Faszinierenden solcher Brückenschläge.

       Sprache

      Eine schwierige Frage: Wie würden Sie »Musik« definieren, objektiv, aber auch möglicherweise für Sie selbst?

      Ich zitiere Textanfänge aus sechs Musiklexika, ohne sie weiter zu kommentieren; in Klammern steht das Erscheinungsjahr. »Musik« ist …

      die Kunst des Vortrags, bestehend aus Gesang und Ton. Und sie ist dreifach, Kunst des Gesanges, der Instrumente und des Rhythmus (1495!),

      die Ton-Kunst, die Wissenschaft wohl zu singen, zu spielen, und zu componiren (1732),

      die Kunst, durch Töne Empfindungen auszudrücken (1802),

      die Kunst, welche ihr Gebilde aus dem flüchtigen, schnellvergänglichen Element der Töne formt und daher bezüglich des Materials in dem denkbar größten Gegensatze zur Architektur steht (1922),

      die Kunst, das von der Natur gegebene Tonmaterial auswählend so zu ordnen und zu begrenzen, dass es […] mit künstlerisch konzipierten Formeln (Stilmitteln) den Eindruck einer einheitlichen Form vermittelt (1962),

      die produktive Gestaltung des Klingenden (1989).

      Die herangezogenen Lexika setzen je eigene Akzente. Ein Blickwinkel hat sich dagegen immer gehalten: Dass instrumentale Musik, die keine Sprache hat, selbst eine Sprache sei, ist eine alte Überzeugung. Johann Mattheson definierte 1739 die Sprachähnlichkeit von Musik mit dieser Gleichsetzung: Instrumentalmusik sei eine »Ton-Sprache und Klang-Rede«. Als Sprache in Tönen entspricht sie in ihrer musikalischen Grammatik der Wortsprache, als Rede in Klängen entspricht sie in ihrem Ablauf einer sprachlichen Rede. »Der musikalische Vortrag«, schreibt Johann Joachim Quantz 1752 in seinem Lehrbuch Versuch einer Anweisung die Flöte traversière zu spielen, »kann mit dem Vortrag eines Redners verglichen werden«, »ein Redner und ein Musikus« verfolgten dieselbe Absicht, »nämlich: sich der Herzen zu bemeistern, die Leidenschaften zu erregen oder zu stillen, und die Zuhörer bald in diesen, bald in jenen Affect zu versetzen.«

      Musik kann sogar, mit ihren sprachlichen Mitteln, Sprechsituationen nachahmen. Die klassische Form dafür ist das Streichquartett [Komposition für vier Streichinstrumente]. Geadelt wurde es durch Goethes Ausspruch von »vier vernünftigen Leuten«, die sich darin »untereinander unterhalten«, sodass man »glaubt, ihren Diskursen etwas abzugewinnen«. Im Anfangssatz von Beethovens Streichquartett B-Dur op. 18 Nr. 6 sind die erste Violine und das Cello führende Akteure, die zweite Geige und die Bratsche zunächst Zuhörer. Die erste Violine trägt einen Gedanken vor, das Cello reagiert darauf, und was nun beide daraus machen, ist richtig amüsant zu verfolgen. Worüber sie sprechen – etwas Trauriges ist es sicher nicht – und wie das komplette Gespräch bis zur ersten deutlichen Pause verläuft, könnte man sich als Hörer überlegen.

       Noch ein zweites, auf andere Weise eindrucksvolles Beispiel: der langsame Satz im Vierten Klavierkonzert Beethovens. Man hat den Eindruck, dass sich anfangs die beiden Parteien – die Streicher und das Solo-Klavier – aus tiefster Seele widersprechen oder aneinander vorbeireden. Wie aber verändert sich ihre Rolle im weiteren Verlauf?

      Laub, lieb, Lob, leise, Lampe, Lupe, leer, Loch, lustig, Leckerbissen, leblos …: Konsonanten geben der Sprache Struktur, Vokale bilden sprachliche Klangfarben. So also, wie sich Musik sprachähnlich verstehen lässt, kann Sprache musikähnlich gestaltet sein. An einem Gedicht von Clemens Brentano (1778–1842) soll das erfahrbar werden. Brentano war in seinen Gedichten mehr als ein romantischer Dichter, er war ein Virtuose und Magier der Sprache. Nebenstehend das ausgesuchte, erlesene Beispiel.

       Der Spinnerin Nachtlied

      Es sang vor langen Jahren

      Wohl auch die Nachtigall,

      Das war wohl süßer Schall,

      Da wir zusammen waren.

      Ich sing und kann nicht weinen,

      Und spinne so allein

      Den Faden klar und rein

      So lang der Mond wird scheinen.

      Als wir zusammen waren

      Da sang die Nachtigall

      Nun mahnet mich ihr Schall

      Daß du von mir gefahren.

      So oft der Mond mag scheinen,

      Denk ich wohl dein allein,

      Mein Herz ist klar und rein,

      Gott wolle uns vereinen.

      Seit du von mir gefahren,

      Singt stets die Nachtigall,

      Ich denk bei ihrem Schall,

      Wie wir zusammen waren.

      Gott wolle uns vereinen

      Hier spinn ich so allein,

      Der Mond scheint klar und rein,

      Ich


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