Abenteuer Musik. Clemens Kühn
Sechs kleine Klavierstücke op. 19; einen guten Einstieg zum Hören bieten die Stücke II und VI. »Kleine« Klavierstücke ist wörtlich zu nehmen, drei von ihnen umfassen nur 9 Takte, die anderen wenig mehr: eine extreme sprachliche Konzentration, die das skizzierte architektonisch-musikalische Ideal in Musik realisiert.
Mathematik
Vier Beispiele für mathematisch-musikalische Ordnungen:
Der Goldene Schnitt meint ein spezielles Teilungsverhältnis. Er durchschneidet einen Abschnitt in zwei unterschiedlich große Teile:
Dabei stehen der gesamte Abschnitt und seine beiden Teile in einem bestimmten Verhältnis zueinander: Zwischen dem Ganzen (1) und seinem größeren Teil (1a) ergibt sich dieselbe Proportion wie zwischen dem größeren Teil (1a) und dem kleineren (1b). Vor allem an Werken des ungarischen Komponisten Béla Bartók (1881–1945) konnte die Proportion des Goldenen Schnitts nachgewiesen werden.
Die Fibonacci-Reihe geht zurück auf den Beinamen »Fibonacci« des Mathematikers Leonardo da Pisa (um 1180–1240). In ihrer besonderen Zahlenfolge bildet jede neue Zahl die Summe der zwei vorangegangenen Zahlen: 1, 1, 2 (= 1 + 1), 3 (= 1 + 2), 5 (= 2 + 3), 8 (= 3 + 5), 13, 21 … Maße in alter Architektur, gelegentlich Musikwerke der Renaissance und häufiger Musik des 20. Jahrhunderts orientieren sich an diesen Größen.
Stücke in variablen Metren komponierte Boris Blacher (1903 bis 1975): Gruppen von Tönen und Klängen sind nach mathematischen Gesichtspunkten organisiert.
Die Zahl 3 verstand man immer schon als ein Symbol für die göttliche Dreieinigkeit. Bis zum Ende des 13. Jahrhunderts war daher die Dreiteiligkeit eines Notenwertes verbindlich; sie wurde als »perfekt« aufgefasst, als vollkommen, während heute die Zweiteilung gilt – ein Viertel umfasst zwei Achtel.
Goldener Schnitt, Fibonacci-Reihe, Variable Metren, Zahlensymbolik: überall die Zahl als Ordnung, Zusammenhalt, sinnstiftende Kraft. Das Mittelalter, das darin antikes Denken weiterführte, begriff alle Erscheinungen als durchwirkt von ihr, den Kosmos im Großen und Kleinen ebenso wie die klingende Musik. Fundamental zeigt sich das am Verhältnis zwischen »Intervall« [dem Abstand zweier Töne] und »Zahl«. Staunen machte es, dass die grundlegenden reinen Intervalle Oktave, Quinte, Quarte auf einfachen Zahlenverhältnissen beruhen, und dass damit Intervalle umso wohlklingender sind, je einfacher die Zahlenverhältnisse ausfallen. Wer eine Gitarre oder ein Streichinstrument zur Hand hat – zur Not tut es auch ein starkes, straff gespanntes Gummiband –, kann das selbst praktisch umsetzen. Die folgende Darstellung zeigt eine ganze Saite und ihre gleichmäßigen Teilungen:
Zupft man eine ganze Saite an, erklingt ihr Grundton. Halbiert man nun die Saite und zupft die Hälften an, erklingt der Grundton eine Oktave höher: Die Oktave zu dem Grundton beruht demnach auf dem Saitenlängen-Verhältnis 1:2 = halbe zu ganzer, doppelt so langer Saite. Die Quinte zu dem Grundton der ganzen Saite erklingt, als Längenverhältnis 2:3, bei Dreiteilung der Saite: zupft man Zweidrittel von ihr an. Die Quarte zu dem Grundton erklingt, als Verhältnis 3:4, bei Vierteilung der Saite: zupft man Dreiviertel von ihr an.
Die Symbolkraft von Zahlen ist auch heute noch geläufig, etwa die 4 als Symbol von »Welt«: vier Himmelsrichtungen, Jahreszeiten, Elemente, Temperamente. In barocker Musik sind Zahlenbeziehungen und Zahlensymbolik lebendig. Viele Musiker forschten zumal in Johann Sebastian Bachs Werk danach; sie kamen zu Ergebnissen, die einleuchtend, verblüffend, spekulativ oder fragwürdig sind. Hier drei unterschiedliche, aber auch umstrittene Beispiele, der einschlägigen Literatur entnommen:
Das geht jedoch nur auf, wenn man das substanzielle Ende des Themas tatsächlich auf dem 14. Ton festsetzt.
Dass kein Hörer die 14 hört, wäre kein Argument gegen sie. Zahlenkonstrukte müssen nicht hörbar und können doch im Hintergrund wirksam sein. Wie eine Musik im Detail »gemacht« ist, muss der Hörer nicht zwingend nachvollziehen, doch er nimmt das wahr, was daraus erwächst: Gestalt und Ausdruck.
Zwischenruf
Wie eine Leinwand
Paul Klee (1879–1940): Im Bachschen Stil (1919)© akg-images
Es gibt Bilder, die von einer bestimmten Musik inspiriert wurden, so Paul Klees Aquarell Im Bachschen Stil (1919). Umgekehrt wurde Musik zu bestimmten Bildern geschrieben, so Giselher Klebes Orchesterwerk Die Zwitschermaschine (1949/50) mit dem Untertitel »Metamorphosen über das gleichnamige Bild von Paul Klee«. Und es gibt Musik, deren Ablauf sich wie eine Bilderfolge auffassen lässt, so Joseph Haydns Vorspiel zu Die Schöpfung, in Station 19 vorgestellt.
Eigentümlich aus solcher Perspektive ist die Musik von Claude Debussy (1862–1918). Debussy ist der bekannteste Vertreter des Impressionismus, des musikalischen Pendants impressionistischer Malerei von Künstlern wie Claude Monet, Auguste Renoir, Paul Cézanne, deren Bilder, gern in freier Natur gemalt, sich auszeichnen durch Farbenspiele, aufgelöste, weiche Konturen und das Atmosphärische der eingefangenen Situation. Ein Werk von Debussy ist wie ein Bild. Dafür möchte ich Sie zu einer besonderen Hörerfahrung einladen.