Abenteuer Musik. Clemens Kühn

Abenteuer Musik - Clemens Kühn


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für Strophe abwechseln: »a« und »ei«. Nicht allein die dazu gehörigen Reim-Worte kehren immer wieder, sondern auch ihre Zeilen, nach einem festen System: Die zweite und dritte Zeile einer Strophe werden variiert zur zweiten und dritten Zeile ihrer jeweils übernächsten Strophe; hier die zweiten Zeilen ab Strophe eins: »Wohl auch die Nachtigall« = Strophe drei: »Da sang die Nachtigall« = Strophe fünf: »Singt stets die Nachtigall«. Entsprechend verhalten sich die zweiten Zeilen ab Strophe zwei zueinander, sowie die dritten Zeilen.

      Brentanos unglaublicher Einfall: Die Schlusszeile einer Strophe wird zur Anfangszeile der jeweils übernächsten Strophe, »Da wir zusammen waren« von Strophe eins eröffnet Strophe drei, »Als wir zusammen waren«; die Schlusszeile von Strophe zwei eröffnet … Das Prinzip gilt mit letzter Konsequenz: Das Ende der sechsten Strophe, »Ich sing und möchte weinen«, ist zugleich Anfang ihrer »übernächsten«, der zweiten Strophe, »Ich sing und kann nicht weinen«. Es ist, als ob das Gedicht erneut und immerzu ablaufen könnte. Wenn Sie beim Lesen meines Nachvollzugs durcheinanderkommen, weil Sie nicht mehr wissen, wo Sie sich gerade befinden, erleben Sie genau das, was Brentano komponiert hat. Die immergleiche Sprache malt inständig das immergleiche Bild der verlassenen Spinnerin, ohne Zeit und Ort und Richtung, eine Art andauernde, in sich selbst kreisende Gegenwart.

      Parallelen zur Musik drängen sich auf. Brentanos Gedicht ist eine minimalistische Klangkomposition. Von ihr aus ist es nur ein kleiner Schritt zu Musik, die in den Stationen 8 und 18 auftritt: zu den Klangwellen der mittelalterlichen Organa Perotins oder zu Klangfarbenkompositionen der 1960er-Jahre oder zur Minimal Music mit ihren narkotisierenden, zeitvergessenen Wiederholungen.

       Architektur

      Zwei großartige Zitate vorweg. In Goethes Maximen und Reflexionen stehen diese Sätze: »Ein edler Philosoph sprach von der Baukunst als einer erstarrten Musik und mußte dagegen manches Kopfschütteln gewahr werden. Wir glauben diesen schönen Gedanken nicht besser nochmals einzuführen, als wenn wir die Architektur eine verstummte Tonkunst nennen.« Der »edle Philosoph«, der von der »Baukunst als einer erstarrten Musik« gesprochen hatte, war Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). In seiner Philosophie der Kunst schreibt er, dass »ein schönes Gebäude in der That nichts anderes als eine mit dem Aug empfundene Musik, ein nicht in der Zeit, sondern in der Raumfolge aufgefaßtes Concert von Harmonien und harmonischen Verbindungen ist.«

      Mit beiden Zitaten ist gesagt, was im Grundsatz immer so gedacht wurde. Musik ist eine Zeitkunst, sie ist gestaltete Zeit und verläuft in der Zeit. Architektur ist eine Raumkunst, sie entfaltet sich in Höhe, Breite, Tiefe. Beide Künste korrespondieren miteinander, und sie gewinnen Schönheit aus einer als harmonisch erlebten Darstellung. Mittelalter und Renaissance nutzten in der Architektur musikalische Proportionen, die als ein Ausdruck kosmischer Harmonie galten. Andererseits begriff man Musik als eine architektonische Kunst. Noch 1739 vergleicht Johann Mattheson die musikalische »Anordnung aller Theile« mit einem Grundriss, »fast auf die Art, wie man ein Gebäude einrichtet und abzeichnet, einen Entwurf oder Riß machet um anzuzeigen, wo ein Saal, eine Stube, eine Kammer u. s. w. angeleget werden sollte.«

      Ein wunderbares Bild: Ist es nicht wirklich so, dass man bei Musik oft das Gefühl hat, verschieden ausgestattete »Räume« zu betreten, zum Beispiel im ersten Satz von Schuberts großer C-Dur-Sinfonie mit seinen drei großflächig dargebotenen Themen?

      Worin konkret sich Musik und Architektur entsprechen, lässt sich in drei Kategorien fassen: Maß, Form, Ausgestaltung.

      Die Zahl wird zum Maß. Das betrifft Proportionen von Bauwerken genauso wie Größenordnungen von Musik. Die erste Fuge in Johann Sebastian Bachs zweibändiger Sammlung Das Wohltemperierte Klavier hat zwei gleich lange Teile aus 14 plus 14 Takten, in der Mitte durch eine erkennbare Zäsur markiert: Im Takt 14, der mit einer deutlich schließenden Wendung erreicht wird, beginnt gleichzeitig der zweite 14-Takter, der wieder einstimmig ansetzt.

      Die Einleitung zur Ersten Sinfonie Beethovens, von der in Station 11 die Rede ist, zeigt einen Zusammenhang zwischen musikalischer Form und Instrumentation, dem Einsatz des Orchesters. Am Anfang der Einleitung dominieren die Bläser mit Akkorden, in der Mitte treten die Streicher hervor mit melodischen Linien, der Schluss gehört dem Tutti [allen] und verbindet Akkorde mit melodischen Bewegungen: Die Instrumentation verkörpert die musikalische Architektur.

      Formgebend in der Baukunst ist äußerst häufig die Idee der Symmetrie. Als ein prominentes Beispiel sei der Dresdner Zwinger genannt. Alle Bauten dieses Ensembles sind von einer Mittelachse her gedacht. Jeweils zwei gleich angelegte Seitenteile flankieren ein andersartiges Mittelstück.

      Der Dresdner Zwinger© akg-images/picture-alliance/ZB/Ulrich Hässler

      Dieser Anlage entspricht in der Musik die Gruppierung A B A, stellt man sie sich räumlich vor statt als zeitliche Folge. Das Modell kommt gleichfalls häufig vor, weil es so sinnfällig ist: auf einfache Weise Gleiches (A) mit Anderem (B) verbindet. Den klassisch-romantischen Sonatensatz, vorgestellt in Station 17, kann man in seiner Großform wie ein Stück Architektur hören: Exposition = A, Durchführung = B, Reprise = A, als veränderte Wiederkehr der Exposition. Die Romantik entdeckte das Lyrische Klavierstück für sich, »lyrisch« als Charakterbezeichnung. Robert Schumann, Johannes Brahms, Felix Mendelssohn Bartholdy haben schönste Stücke geschrieben. Das Erstaunliche ist deren äußere Gleichförmigkeit. Der allergrößte Teil aller Lyrischen Klavierstücke folgt der Gruppierung A B A: Nicht die Form sollte originell sein, sondern der Inhalt. Wer Beispiele zum Hören sucht: Schumanns Kinderszenen, Brahms’ umfänglichere Klavierstücke op. 119, Mendelssohns Lieder ohne Worte.

      Wie Architektur auf die Ausgestaltung von Musik wirken kann, zeigen drei starke Beispiele:

      die Spiegelung der Gotik – vgl. die Abbildung – im klangprächtigen Organum;

      die Mehrchörigkeit der Spätrenaissance: Musik vom Raum inspiriert und für ihn entworfen;

      die Beeinflussung kompositorischer Anschauungen. Der österreichische Architekt Adolf Loos (1870–1933), mit dem Komponisten Arnold Schönberg befreundet, war ein unbedingter Gegner architektonischer Verzierungen, etwa im Verspielten des Jugendstils. Wer sich das Looshaus in Wien anschaut, gewinnt einen Eindruck von seiner schmucklos reinen Bauweise: Architektur pur. Dokumentiert hat Loos seine Haltung in einem Text von 1908 mit dem provokanten Titel Ornament und Verbrechen. In eben diesem Zeitraum begann Arnold Schönberg, seine Musik von der Bindung an Dur und Moll zu lösen und sie zugleich hinzuführen zu einer frei fließenden musikalischen Sprache, die sich am Ungebundenen der sprachlichen Prosa orientiert. In einem späteren Aufsatz Anfang der 1930er-Jahre hat Schönberg solcher musikalischen Prosa bestimmte Eigenschaften abverlangt. Eine »unumwundene Darstellung von Gedanken ohne jegliches Flickwerk« solle sie sein, »ohne bloßes Beiwerk und leere Wiederholungen«, fern von »Weitschweifigkeit«. Ist dies nicht eine musikalische Übersetzung von Adolf Loos’ Verurteilung des schmückenden Ornaments?

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