Spessartblues. Günter Huth
Max, schliefen sicher tief und fest im oberen Stockwerk, wo sich die Schlafräume befanden. Sie wähnten den Ehemann und Vater im Klinikum bei der Arbeit als Oberarzt. Um seine Familie nicht zu stören, würde er sich jetzt in seinem Arbeitszimmer im unteren Stockwerk auf einer Couch zur Ruhe legen. Dies war wegen seiner unregelmäßigen Dienste eine durchaus gängige Praxis, mit der sich seine Frau schon lange abgefunden hatte.
Gerade als er den Schlüssel ins Schloss stecken wollte, überkam ihn unvermutet das bedrohliche Gefühl körperlicher Nähe. Ehe er reagieren konnte, fühlte er an seinem Hals eine kalte Berührung, dann fuhr ein heftiger Stromschlag durch seinen Körper, der alle seine Muskeln verkrampfen ließ und ihm die Sinne raubte. Wie ein gefällter Baum kippte er um. Ehe er den Boden berührte, wurde er von zwei starken Armen aufgefangen. Der hochgewachsene Mann, der sich ihm völlig unbemerkt genähert hatte, ließ sein Opfer langsam auf die Betonplatten sinken. Er holte eine aufgezogene Spritze aus der Brusttasche seines schwarzen Jogginganzugs, dann schob er den Hemdärmel seines Opfers in die Höhe und stach die Nadel routiniert in die Muskulatur. Zügig injizierte er das schnell wirkende Betäubungsmittel. Anschließend schob er die Nadel wieder in ihre schützende Hülle und steckte die Spritze ein. Noch immer über den liegenden Mann gebeugt, prüften seine Augen zum wiederholten Male die Umgebung. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Vorsichtig hob er den erschlafften Körper des Mannes in die Höhe. Obwohl er ausgesprochen kräftig war und sein Opfer kaum Übergewicht hatte, kündete ein leises Ächzen von der körperlichen Anstrengung, als er sich den Mann mit Schwung über die Schulter wuchtete. Mit der freien Hand schnappte er sich seine Sporttasche und eilte mit kurzen, schnellen Schritten zum Kastenwagen. Dort verfrachtete er sein betäubtes Opfer auf die Ladefläche, die mit einer Plastikplane ausgekleidet war. Mit wenigen Handgriffen warf er einige Decken über den Körper, dann schloss er leise die Türe. Nach seiner Berechnung genügte die verabreichte Dosis für eine ausreichend lange Betäubung. Während er sich hinter das Steuer schob, bewegte er seine Schultern und den Kopf in kleinen kreisenden Bewegungen, um die vom Tragen angestrengte Muskulatur zu lockern. Einen Moment später lenkte er den Renault aus der Parklücke. Erst gute hundert Meter von dem Haus entfernt schaltete er das Fahrlicht ein.
Das Erwachen war wie das Auftauchen aus einem tiefen, schweren Traum. Beim Versuch, die Augen zu öffnen, stach ihm gleißendes Licht wie Dolchspitzen in die Augen. Blitzschnell schloss er sie wieder, bis er es einen Moment später erneut versuchte. Die Helligkeit kam von mehreren Leuchtstoffröhren, die über ihm an der Decke befestigt waren. Er lag flach auf einem glatten, kalten Untergrund. Als Nächstes registrierte er seine vollständige Nacktheit. Beim Versuch, sich aufzurichten, bemerkte er mehrere breite Kunststoffriemen, die über seinem Oberkörper verliefen und ihn an Ort und Stelle fixierten. Die ebenfalls festgeschnallten Arme lagen seitlich ausgestreckt auf einer Liege. Er hob seinen Kopf, soweit es ging. Sein Blick huschte irritiert durch einen völlig weiß gefliesten Raum. Mit Entsetzen registrierte er seine gespreizten Beine, die an die Beinhalterungen eines gynäkologischen Stuhls geschnallt waren. Jetzt erst nahm er auch die Kühle seiner Umgebung war. Ein eiskalter Schauer fuhr durch seinen Körper und vertrieb den letzten Rest des Betäubungsmittels aus seinem Kopf. Stattdessen wurde er von Furcht ergriffen. Noch nie in seinem Leben hatte er sich derart ausgeliefert gefühlt. In seiner Welt war er es, der über das Schicksal anderer Menschen entschied. Seine Augen erfassten jedes Detail dieses Raumes, der ihn in seiner sterilen Ausstrahlung in frappierender Weise an einen der Operationssäle erinnerte, in denen er tagtäglich arbeitete. Erstaunlicherweise beruhigte ihn dies aber nicht, eher im Gegenteil. Bevor er sich so weit gefasst hatte, dass er seine gegenwärtige Lage halbwegs rational analysieren konnte, öffnete sich zu seinen Füßen an der Schmalseite des Raumes eine Tür. Ein hochgewachsener Mann trat ein, der vollständig mit einem weißen Schutzoverall bekleidet war, der die Konturen seines Körpers verwischte. Sein Kopf verschwand unter einer gleichfarbigen Haube, die nur zwei Öffnungen für die Augen besaß. Seine Hände steckten in Gummihandschuhen, seine Schuhe in Überziehern, die er ebenfalls aus dem OP-Saal kannte. Langsam kam der Mann näher und musterte wortlos seinen Gefangenen mit dem abschätzenden Blick eines Henkers, der den Delinquenten daraufhin begutachtete, was er ihm zumuten konnte.
Der Mann auf dem Stuhl hielt es nicht länger aus. Mit einer rauen Stimme, die er selbst kaum wiedererkannte, stieß er hervor: »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir? Was soll das alles?« Er zerrte heftig an den Bändern.
Wortlos umkreiste der Vermummte den Stuhl. Verkrampft folgte ihm der Gefangene mit den Augen.
»Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis?«, kam die kräftige Stimme des Mannes etwas gedämpft unter der Maske hervor.
Der Gefangene war von dieser sachlichen, emotionslosen Frage so überrascht, dass er nur zustimmend nicken konnte.
»Wenn Sie meine Fragen bitte laut beantworten. Unser Gespräch wird aufgezeichnet und ich möchte nicht, dass es irgendwann zu Irritationen kommt. – Also, noch einmal: Sie sind Privatdozent Dr. Philipp Lohneis? Oberarzt der kinderchirurgischen Abteilung der Uni-Klinik Würzburg?«
»Das ist richtig«, gab Lohneis nunmehr vernehmlich zurück. »Aber warum wollen Sie das wissen? Und weswegen liege ich hier nackt festgeschnallt auf diesem Stuhl?« Zur Unterstreichung seiner Worte riss er wieder heftig an den Fesseln. Zorn begann seine Furcht zu überdecken.
»Sie sind hier wegen Anni Neugebauer. Neun Jahre alt, blond, mit blauen Augen. Sie kennen Anni Neugebauer!«
»Eine Patientin mit diesem Namen ist mir unbekannt!«, kam es unerwartet heftig von Lohneis.
»Anni Neugebauer war nie Ihre Patientin.« Er äußerte dies mit der gleichen Ruhe und Gelassenheit wie seine Sätze davor. »Sagen Sie mir, wo Sie mit ihr zusammengekommen sind.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen! Binden Sie mich endlich los!« Wieder riss er an seinen Fesseln.
Der Maskierte reagierte nicht darauf, vielmehr drehte er sich herum und verließ den Raum. Der Gefangene erstarrte und blickte ihm wie paralysiert hinterher. Eine schreckliche Furcht lähmte plötzlich seinen Verstand. Nach einer Weile kam der Mann zurück. Er trug einen länglichen Gegenstand in seiner Hand, den der Mediziner nicht gleich identifizieren konnte. Plötzlich drang ein schwer beschreibbarer Geruch an seine Nase, der ihm aber irgendwie bekannt vorkam. Schlagartig kam ihm die Erkenntnis! Es war der Geruch, der im OP entstand, wenn ein Kauter, ein elektrisch erhitzbares Operationsinstrument zum Einsatz kam, mit dem man beispielsweise Blutungen stillen konnte.
Mit schreckensweit geöffneten Augen fühlte er auf seiner Haut die starke Hitze, die von dem Gegenstand ausging, als sein Peiniger sich zwischen seine gespreizten Beine stellte.
»Sagen Sie mir, wo Sie das Kind getroffen haben, dann werde ich Sie vorher betäuben.«
Als Lohneis das Brandeisen erkannte, begann er unartikuliert zu schreien. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen«, würgte er hervor. »Sie sind ja völlig wahnsinnig!«
»Wie Sie wollen«, erwiderte der Mann mit großer Ruhe, dann zielte er mit dem glühenden Eisen, das er mit beiden Händen an einem Holzgriff hielt, auf den Bauch dicht unterhalb des Bauchnabels. Lohneis kämpfte wie ein Rasender gegen seine Fesseln, die ihn unbarmherzig fixierten. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte der Mann das heiße Metall fest auf den Unterbauch des Gefangenen. Es zischte und beißender, stinkender Qualm stieg auf. Nach drei Sekunden nahm er das Eisen wieder weg. Das nicht mehr enden wollende, unmenschliche Gebrüll des gemarterten Mannes schallte schaurig von den gefliesten Wänden wider. Nach einem letzten Aufbäumen sackte Lohneis in sich zusammen. Eine gnädige Ohnmacht nahm ihm für den Augenblick den Schmerz.
Der Vermummte legte das Brandeisen in ein Handwaschbecken mit Wasser. Zischend und dampfend kühlte es ab. Dann trat er an sein Opfer heran und musterte ohne Gefühlsregung das Ergebnis seiner Tat. Die Brandwunden hoben sich wulstartig von der Haut ab. Deutlich war das aufgeplatzte, blanke Fleisch sichtbar. Sie würden später gut sichtbare Narben abgeben, wodurch die Botschaft für immer gut lesbar sein würde. Er trat neben den Gefesselten und schlug ihm auf die Wangen. Es war noch nicht zu Ende. Auch den zweiten Akt sollte der Mann bei vollem Bewusstsein mitbekommen. Wenig später flatterten Lohneis’ Augenlider und er kam zu sich. Sofort schoss der überwältigende Schmerz durch seinen Körper und ein