Spessartblues. Günter Huth
Balkons. Er wusste, dass er sich im obersten Stockwerk dieses Gebäudes befand. Unter ihm in der Dunkelheit verbarg sich eine kleine Grünanlage, an die sich ein Parkplatz anschloss. Ursprünglich hatte er daran gedacht, sein Vorhaben durch eine massive Überdosierung des Betäubungsmittels durchzuführen, das man ihm gegen die Schmerzen verabreichte. Dieser Plan wurde jedoch durch die Apparate durchkreuzt, da sie sofort Alarm geschlagen hätten, wenn er von der einprogrammierten Dosis abgewichen wäre.
Mit drei zögernden Schritten war er am Geländer. Krampfhaft hielt er sich fest, um den aufkommenden Schwindel zu beherrschen, der ihm kurzfristig den Blick vernebelte. Als er den Anfall überwunden hatte, blickte er nach links und rechts. Der Balkon war menschenleer. Aus wenigen entfernteren Zimmern drang schwacher Lichtschein. Vermutlich Patienten, die keinen Schlaf fanden.
Er starrte in den Abgrund. Einige Lampen erleuchteten den Parkplatz, der Grüngürtel unter ihm lag in Dunkelheit. Er zögerte kurz, sein Entschluss geriet für eine Gedankenlänge ins Wanken. Tränen liefen ihm über die unrasierten Wangen. Er fühlte sie nicht. Der Teufel in ihm hatte ihn zu diesen schlimmen Taten verführt. Es waren nur wenige Kinder, die er seiner Neigung geopfert hatte. Vor seinem geistigen Auge erschienen die furchtsam aufgerissenen Augen der kleinen Mädchen, denen er nicht hatte widerstehen können. Für jedes einzelne hatte er diese Strafe verdient. Er stand jetzt im wahrsten Sinne des Wortes direkt am Abgrund. Ihm war klar, dass das Leben ihm keine Gelegenheit mehr bot, Wiedergutmachung zu leisten. Nun galt es, für seine Handlungen geradezustehen. Sein letzter Gedanke galt seiner Familie, die er durch seine nun offenkundig werdenden Verfehlungen dazu verurteilt hatte, mit dieser erdrückenden Schmach weiterleben zu müssen. Er gab sich einen Ruck und zog sich über das Balkongeländer. Ohne einen Laut stürzte er mit dem Kopf voraus in die Finsternis. Von dem Aufprall bekam er nichts mehr mit.
Nein!« Sein heiserer Schrei gellte durch das dunkle Schlafzimmer und riss ihn aus dem schrecklichen Traum. Schwer atmend richtete er sich im Bett auf. Quälend langsam fand er den Weg aus den bedrückenden Bildern in die Realität. Zögernd wischte er sich über die schweißnasse Stirn. Das Oberteil seines Schlafanzugs klebte feucht und unangenehm kalt an seinem Körper. Es dauerte noch einige Sekunden, bis er in die Gegenwart fand.
Simon Kerner setzte die Füße auf den Boden, dabei fiel sein Blick auf die grünlich schimmernde Leuchtanzeige seines Weckers. Kurz nach vier Uhr. Eigentlich hätte er auch ohne diese Information die Uhrzeit bestimmen können. Seit er vor einer Woche von seinem langen Marsch auf dem Jakobsweg zurückgekehrt war, riss ihn der immer gleiche, schwere Alptraum zu dieser nächtlichen Stunde aus dem Schlaf. Ein Phänomen, das erst aufgetreten war, seitdem er wieder in seinem Haus wohnte. Auf der langen, erschöpfenden Pilgerreise hatte er meist tief und traumlos geschlafen. Es war, als hätten die Geister der Vergangenheit hier auf ihn gelauert, um ihn zu quälen.
Langsam erhob er sich und verließ, ohne das Licht anzumachen, barfuß das Schlafzimmer. Erst im Bad drückte er auf den Lichtschalter. Das grelle Licht der Deckenleuchte zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen. Er zog den feuchten Schlafanzug aus und warf ihn auf einen Haufen Schmutzwäsche, der sich in der Ecke neben der Waschmaschine ansammelte, getragene Kleidung von seiner zurückliegenden Reise. Bisher hatte er noch nicht die Energie gefunden, sie in die Waschmaschine zu stecken. Kerner öffnete die Tür der Duschkabine, stellte das Wasser an und trat unter die heißen Wasserstrahlen. Mit geschlossenen Augen ertrug er die Hitze, die seinen Körper langsam von der klebrigen Kälte befreite. Als er es fast nicht mehr ertragen konnte, drehte er die Mischbatterie abrupt auf Kalt. Innerhalb von Sekunden prasselten die eisigen Strahlen wie Nadelstiche auf ihn herab und ließen ihn erschauern. Erst als seine Haut von der Kälte fast gefühllos war, drehte er das Wasser ab und trat aus der Dusche. Dankbar registrierte er, dass der Wasserdampf den Spiegel über dem Waschbecken total beschlagen hatte, so musste er den Anblick seines Gesichts nicht ertragen.
Seit seiner Rückkehr war es ihm noch nicht gelungen, auch nur annähernd in die Normalität seines früheren Lebens zurückzufinden. Als er sein Haus zum ersten Mal wieder betrat, richtete sich die Leere wie eine Mauer vor ihm auf. Alle Gegenstände, die ihm einst so vertraut gewesen waren, strahlten Fremdheit und Kälte aus und stießen ihn von sich. Steffis Aura, die sonst wie eine warme Umarmung in jedem Raum zu spüren gewesen war, fehlte schmerzhaft. An ihre Stelle war ein beängstigendes Vakuum getreten, das ihm fast die Luft zum Atmen nahm. Verzweifelt war er durch das Haus geirrt, um einen Platz zu finden, wo diese Empfindung etwas erträglicher wurde. Dabei fiel ihm auf, dass er in Gedanken »das« Haus sagte, nicht »sein« Haus. Kerner war seinem Freund Eberhard Brunner sehr dankbar, dass der sich in unregelmäßigen Abständen um das Haus gekümmert hatte. Objektiv betrachtet war alles in Ordnung. Subjektiv fühlte er sich hier wie ein Fremder.
Kerner verließ, eingewickelt in das Handtuch, das Bad, betrat das Schlafzimmer und öffnete seinen Kleiderschrank. Heute war sein erster Arbeitstag. Ohne zu überlegen, griff er sich frische Unterwäsche, Socken, ein dunkelblaues Hemd, einen anthrazitfarbenen Anzug und eine passende Krawatte. Für einen Moment zögerte er, dann legte er die Kleidungsstücke auf das leere Bett neben seiner zerwühlten Zudecke. Steffis Bett. Eberhard hatte die Federdecke und ihr Kissen weggeräumt. Er hatte dies ohne Rücksprache mit ihm getan, um ihm den Schmerz der Berührung mit diesen intimen Dingen zu ersparen. Kerner schüttelte den Kopf, um die Gedanken aus seinem Kopf zu verjagen. Er musste seinen Vorsatz einhalten und loslassen. Während seiner Pilgerreise hatte er sich bei schmerzlichen inneren Kämpfen zu dieser Erkenntnis durchgerungen. Dort hatte ihm auch die räumliche Entfernung von zuhause geholfen. Hier im Haus, wo jeder Kubikzentimeter Raumluft Steffi mit sich trug, begann dieser harte Prozess unter erschwerten Bedingungen von neuem.
Er ließ das Handtuch fallen und zog sich an. Als er den Bund der Anzughose schloss, bemerkte er reichlich Spiel. Auch an seinen anderen Kleidungsstücken war ihm aufgefallen, dass er einige Pfunde abgenommen hatte. Seine Muskulatur war durch die täglichen Anstrengungen der Wanderschaft noch kräftiger geworden, seine Fettreserven aber praktisch aufgebraucht. Er schnallte den Gürtel zwei Loch enger. Vor dem Spiegel band er seine Krawatte, dann fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, die ein gutes Stück länger waren, als er sie früher getragen hatte. Letztmals hatte in Spanien ein Dorffrisör Hand an ihn gelegt. An den Schläfen drängten sich, gut sichtbar, die ersten grauen Haare in den Vordergrund. Den langen Bart, der ihm auf der Reise gewachsen war, hatte er schon kurz nach seiner Ankunft abgenommen. Die Stellen in seinem hager gewordenen Gesicht, die wegen Bart und Haaren nicht der Sonne ausgesetzt waren, wirkten gegenüber seiner ansonsten tiefen Bräune bleich und leicht maskenhaft.
Beim Läuten des Telefons im Wohnzimmer zuckte er leicht zusammen. Kerner war dieses Geräusch nicht mehr gewöhnt. Unterwegs hatte er auf jede Art von moderner Kommunikation verzichtet. Nur so konnte er den erforderlichen Abstand zu seinem alten Leben schaffen.
»Hallo Simon«, kam die Stimme von Eberhard Brunner aus dem Hörer, »ich möchte dir für deinen ersten Arbeitstag nochmals alles Gute wünschen. Du hast ja heute erst mal einen Termin beim Landgerichtspräsidenten hier in Würzburg. Wenn du fertig bist, ruf mich an. Wir können uns dann auf einen Kaffee treffen. Du solltest es erst einmal langsam angehen lassen. Sonst ist alles in Ordnung bei dir?«
Sein Freund Eberhard Brunner, der als Leiter der Mordkommission in Würzburg arbeitete, hatte ihn nach seiner Ankunft in Würzburg vom Bahnhof abgeholt und ihn hierher nach Partenstein gefahren. Seitdem hatte er ihn jeden zweiten Tag besucht. Auch gestern wollte er kommen, musste sich dann aber wegen eines dringenden Einsatzes entschuldigen.
»Danke. Schön, dass du anrufst. Ich mache mich gerade fertig. Ich bin etwas angespannt. Kann sein, dass mir der Präsident eine unangenehme Eröffnung macht. Immerhin bin ich ja nach …« Er stockte kurz, dann fuhr er fort: »… den Ereignissen ziemlich fluchtartig aufgebrochen. Im Nachhinein betrachtet, habe ich meine Behörde wohl ziemlich im Stich gelassen.« Kerner verstummte.
»Mach dir keine Vorwürfe! Ein anderer wäre bei diesem Schicksalsschlag, den du ertragen musstest, völlig zusammengebrochen.«
Kerner zuckte mit den Schultern, obwohl Brunner das natürlich