Mach's gut? Mach's besser!. Volker Ladenthin
Showdown
Stellen wir das Beispiel gleich mal auf die Probe. Viele meiner Freunde sagten: „In einer solch banalen Situation wie jener im Supermarkt zieht man doch keine Ethik zu Rate! Man handelt spontan, aus dem Bauch heraus. Oder aus der Hüfte. Wie beim Pistolenduell im Western. Showdown. Man wird ihr doch sofort …“
… aber kann man solch spontane Entscheidungen rechtfertigen? Aus dem Bauch heraus betrachtet, war mir die Kassiererin nicht sehr sympathisch. Da hätte ich ihr gerne für all die Demütigungen einen Dämpfer gegeben. Statt das Geld zu geben, hätte ich es ihr gern heimgezahlt! Wie sie mit der alten Dame umgegangen ist oder mit den Kindern. Aber darf man sich rächen? Kann man immer aus dem Bauch heraus handeln? Und wenn nein, wann dann nicht? Würde diese Regel gelten, dann übrigens hätte bereits die Kassiererin richtig gehandelt. Sie war schlecht gelaunt, mochte uns nicht und hat es uns allen gezeigt! Sie wäre der Innbegriff von Sittlichkeit! Prima!
Prima? Soll ein Richter danach urteilen, ob er den Beschuldigten sympathisch findet? Soll die pädagogische Fachkraft in der Kita die Liesl maßregeln, weil sie sie nicht mag, beim Niklas aber alles durchgehen lassen, weil er so knuffig ist? Wirft man eine Atombombe, weil man wütend ist? Handlungen muss man doch vernünftig und verantwortlich begründen!
Das tut man nicht
Nun gut, dann könnte man im Supermarkt-Fall sagen: Wer sich Geld unrechtmäßig aneignet, verstößt gegen das, was alle Menschen als falsch ansehen. Gegen die Konventionen.
Aber allein, dass ich gezögert und das Geld nicht spontan zurückgegeben habe, zeigt, dass eben nicht alle Menschen in dieser Situation gleich handeln würden. Ich gehöre ja auch zu allen Menschen – und wenn ich zweifle oder auch nur zucke oder zögere, deutet das an, dass es nicht immer dieses gemeinsame Einverständnis darüber gibt, wie zu handeln ist. Manche werden sagen: „Wenn du das Geld zurückgegeben hättest, hättest du den ganzen Laden nur unnötig aufgehalten! “ Oder: „Ach, bei 30 Cent! Was machst du dir da für Gedanken! “ Oder: „Wenn die so unfreundlich war! Selbst schuld! Da gebe ich nichts zurück!“ Sich auf die Meinung der Allgemeinheit zu berufen, geht nur, wenn die Allgemeinheit eine einzige Auffassung hätte: Mein Zögern und die Kommentare meiner Freunde zeigen aber, dass dieser Konsens fehlt. Und genau für diese Situation brauche ich eine Antwort.
Ethik braucht man nicht, wenn alle wissen, wie’s geht …, sondern nur dann, wenn man zögert und zweifelt. Wenn es unklar ist und unübersichtlich. Wenn jeder etwas anderes sagt. Ethik braucht man nur im Dissens. Im Pluralismus. In der multikulturellen Gesellschaft. In der Demokratie. In der Vielfalt. Einigkeit und Einheit brauchen keine Ethik. Ich will diesen Satz einmal festhalten. Damit man ihn nicht vergisst:
(1) Ethik braucht man nur, wenn es keine allgemein anerkannte gültige Moral gibt.
Ich sage es schon mal prophylaktisch an dieser Stelle: Wir werden nie mehr eine einheitliche Moral haben. Einen common sense. Die Menschen der Welt werden nie mehr mit einem Wort reden. Die einzelnen Länder auch nicht. Nicht mal die Familien oder Ehepartner. Meinungsvielfalt bleibt der Normalfall. Kulturelle Differenzen sind der Alltag. Deshalb brauchen wir die Ethik.
Recht und Ordnung
„Aber das stimmt doch gar nicht! Es sagt doch nicht jeder etwas anderes. Die Gesetzeslage ist doch klar!“ … Dieser Verweis verschiebt allerdings mein Problem nur. Mein Einbehalten von fremdem Eigentum im Supermarkt wäre vielleicht wegen Geringfügigkeit vom Gericht abgewiesen worden … (… obwohl es auch schon wegen solcher Geringfügigkeiten Kündigungen gab … siehe oben. Es geht also nicht um die Größe des Vergehens, sondern ums Prinzip.) Wichtiger aber ist der Umstand, dass sich auch der Richter auf einen Grundsatz berufen muss, wenn er sein Urteil fällt. Woher weiß es der Richter? Aus den Gesetzen! Und wie kommen Gesetzgeber zu ihren Gesetzen? (Genaueres dazu im Kapitel 5.)
Besuch der Alten Bibliothek
Für Begründungen aller Art sind heute die Wissenschaften zuständig. Bei der Frage nach der Geldrückgabe im Supermarkt wäre also die Ethik zuständig. Denn Ethik ist die „philosophische Wissenschaft vom Sittlichen“ (wie es der alte Brockhaus formuliert). Wenn man nicht weiß, wie man handeln soll, dann muss man sich dieser Wissenschaft bedienen. Ebenso, wie man sich der „Wissenschaft vom Gesunden“ bedient, wenn man an Halsschmerzen leidet oder sich die Hand verstaucht hat.
Aber nun entsteht ein Problem: Sie erkennen es sofort, wenn Sie einmal die Abteilung Ethik in der Bibliothek eines philosophischen Instituts in Ihrer Nähe aufsuchen. Sie sehen mit einem Blick, dass Sie all diese Bücher in ihrem Leben nicht werden lesen können, auch wenn sie nichts anderes täten, als nur diese Bücher zu lesen. (Ist es sittlich, nur zu lesen und nicht zu handeln?) Es sind nicht tausende, es sind hunderttausende, und dazu noch in allen Sprachen der Welt. In Altpersisch zum Beispiel, denn die Ethik ist eine alte Wissenschaft. Vielleicht – zusammen mit der Theologie und der Heilkunst, der Politik, der Pädagogik und der Poetik – die älteste Wissenschaft. Sobald man nämlich merkte, dass man nicht nur etwas tun muss, sondern etwas tun kann, stellte sich die Frage, was man tun soll: Soll ich, was ich kann? Und: Was soll ich von dem tun, was ich tun könnte? (Und diese Fragen haben die ersten Menschen recht bald gestellt. Vermutlich gleich am ersten Tag. Mehr davon im Kapitel 7.)
Die Ethik entsteht aus dieser Differenzerfahrung: Soll ich, was ich kann?
Dabei gilt: Auch wenn ich keine Entscheidung treffe, habe ich eine Wahl getroffen. Auch das süße Nichtstun ist für den Ethiker ein Handeln: Wer einem Mitmenschen, der auf dem Glatteis ausgerutscht ist, nicht wieder auf die Beine hilft, sondern zuschaut, der handelt. Er unterlässt etwas, nämlich die Hilfeleistung. Daraus folgt: Wir können nicht Nicht-Handeln. Und das heißt: Wir können gar nicht ohne Ethik leben. Wäre das die zweite Regel einer Ethik?
(2) All unser Handeln ist immer schon ethisch relevant, ob wir es nun wollen oder nicht.
Die grundlegende Frage der Ethik stellte sich demnach in dem Augenblick, in dem ein Mensch sich aus den Selbstverständlichkeiten löste und begriff, dass es mehrere Wege zum Ziel gibt. Und dass es mehrere Ziele gibt. Welchen Weg sollte er zu welchem Ziel wählen? Den Umweg über ungenutztes Land – oder den kürzeren über das Land, auf dem andere Menschen wohnen, deren Felder man dann beim Durchzug allerdings ein wenig platt tritt und als Weide unbrauchbar macht?
Suchen wir nach Antworten für jenen ersten Menschen. Gehen wir in die Bibliothek. Nur zu Besuch. Nehmen wir nach und nach einige Bücher aus dem Regal, blättern und lesen wir. Zum Beispiel in jenen, die erklären, dass Ethik gar nicht möglich sei: Es könne gar keine allgemeine Ethik geben, weil man es immer selbst wissen müsse.
Buchausleihe: Ein Do-it-yourself-Ratgeber
Muss jeder selbst wissen: Ist das ein Argument gegen die Ethik? Keinesfalls! Natürlich muss man es selbst wissen. Auch wenn man ein Auto fährt, muss man selbst wissen, wie man es zum Fahren bringt. Das spricht aber doch nicht dagegen, dass man ein Auto nach den Anweisungen der Bedienungsanleitung fährt. Es fährt für alle nach den gleichen Mechanismen, die der Mechaniker genau kennt. Vielleicht ist die Ethik eine solche Mechanik? Sie will uns die Regeln sittlichen Verhaltens erklären. In Einzelschritten. Von Level zu Level.
Wir müssen immer alles selbst wissen und tun. Denn nur dann können wir verantworten, was wir tun. Aber das schließt ja nicht aus, dass es Regeln für unser Tun gibt – wie in der Mechanik.
(3) Wir müssen immer alles selbst wissen. Nur wir selbst tragen die Verantwortung für unser Tun.
Wenn unser Handeln Folgen hat (und all unser Handeln hat Folgen, auch das Nichtstun), dann hat derjenige die Verantwortung, der handelt. Um handeln zu können, muss er es selbst wissen. Nur muss er sich kundig machen, um es selbst wissen zu können – und dabei könnte ihm die Bibliothek des Philosophischen Instituts, Abteilung Ethik, helfen.
Buchausleihe: Es geht alles vorüber
Da stoßen wir in