Mach's gut? Mach's besser!. Volker Ladenthin
Was vor 100 Jahren noch gerichtlich geahndet wurde, sei heute erlaubt. Und umgekehrt. Was früher erlaubt gewesen sei, sei heute verboten. Etwa Kinder zu schlagen. Das sei heute verboten. Alles, was als sittlich angesehen würde, sei daher kulturell bedingt und damit relativ. Wenn jedoch etwas relativ sei, dann müsse man das nicht weiter ernst nehmen.
Eine merkwürdige Konsequenz! Wenn man immer so argumentiert hätte, dann wären wir im Urzustand verblieben. Wir würden leben wie die Tiere. Unsere Vorfahren hätten gesagt: „Ach was, Gräser zu Getreide zu veredeln! Wozu? Alles Wissen über Getreideanbau ist kulturell bedingt und damit relativ. Wenn etwas relativ ist, dann muss man es nicht weiter ernst nehmen. Jeder will was anderes anbauen, da lohnt es gar nicht, dass wir anfangen, etwas anzubauen!“
Auch die Zubereitung des Essens unterliegt historischem Wandel. Verzichten wir deshalb auf neue Rezepte? Alles unterliegt immer dem Wandel, aber das ist doch kein Grund, auf das bessere Verfahren zu verzichten. Das Bessere hat immer Anteil am Besten, das den Maßstab abgeben muss. Sollen wir heute aufs Essen verzichten, weil wir ahnen können, dass es in 200 Jahren viel, viel gesünderes Essen geben wird als heute?
Wandel kann „Verbesserung“ heißen, und es ist nicht einzusehen, dass sich nicht auch die Ethik zum Besseren hinwenden, sich also verbessern könnte, wenn sich selbst Kochrezepte verbessern lassen.
(4) Weil alles relativ ist, können wir es stets besser machen.
Allerdings ist nun zu ahnen, warum es so viele Ethiken geben kann: Nicht weil die Ethiken relativistisch sind, sondern weil sie verbesserbar sind. Jede Ethik will Anteil am Guten haben. Am Absoluten. (Ansonsten müsste man sich nicht abmühen.) Man lernt hinzu, viele wissen mehr und daher kann man auch alte Probleme neu formulieren.
Buchausleihe: Die Geschichte der sich zersingenden Sängerin Da bliebe ich aber sehr an der Oberfläche. Man könnte da einmal ganz in die Tiefe gehen und grundsätzlich werden: (1) Es könne keine endgültige Ethik geben, weil sie durch Vernunft begründet sei! Die Vernunft sei aber nicht zu begründen, ohne sie schon vorauszusetzen. (2) Es könnte sein, dass die Vernunft einen Widerspruch in sich selbst habe, eine Dialektik, nach der die Vernunft das, was sie aufbaut, zugleich zerstört. Indem die Vernunft die Welt in Begriffe bringe, zerstöre sie den Eigensinn der Welt. Indem die Vernunft den Menschen als Mensch definiere, spreche sie nicht mehr vom Menschen vor allem Begreifen, sondern nur noch von dem, was an ihm vernünftig begriffen wurde. Die Vernunft sei eine Sängerin, die beim Singen ihre Stimme ruiniert. Sie müsse singen, weil man sie sonst nicht hörte, aber wenn sie singe, zerstöre sie ihre Stimme. Nur wenn sie nicht sänge, bliebe ihr Gesang schön. Sie müsse stumm bleiben, damit sie schön singen könne.
Übersetzt: Die Welt sei so schlecht, weil die Menschen versuchten, sie durch Vernunft zu gestalten. Am Anfang sei die Tat. Nicht reden, sondern handeln.
Na, hier versucht jemand, an einem Seil hochzuklettern, das er selbst in den Händen hält. Denn die Vernunftkritiker lassen unberücksichtigt, dass auch ihr Einwand vernunftbegründet ist. Der Ratschlag „Misstraue der Vernunft“ will doch selbst vernünftig sein und scheint daher nicht so ganz zu Ende gedacht zu sein.
Zudem könnte man fragen: „Warum soll ich nicht der Vernunft folgen?“ – „Weil immer dann … “ Und dann kämen lange Aufzählungen, warum es vernünftig sei, der Nicht-Vernunft zu folgen. Nur sind das ja alles Vernunftgründe. Also nichts Neues.
(5) Wir können immer nur vernünftig sein.
Wenn wir der Nicht-Vernunft folgen sollen, dann bräuchte uns das niemand zu sagen. Dann würden wir es tun, auch ohne solche Ratschläge. Aus Vernunftgründen der Vernunft nicht zu folgen, ist etwas sehr wild gedacht. Wir Menschen, wir können der Vernunft folgen oder eben nicht. Weil wir etwas tun können oder sein lassen können, müssen wir dafür vernünftige Gründe angeben. Also folgen wir immer der Vernunft.
Wenn die Vernunft unbegründbar ist (und mithin alles nicht gerechtfertigt, was mittels Vernunft gefunden wird), dann trifft diese Behauptung auch die Kritik an der Vernunft. Sie wäre dann nicht gerechtfertigt. Wenn man die Vernunft ablehnt, dann gibt es auch keine gültige Kritik an der Vernunft – jedenfalls so lange nicht, wie sie mittels Vernunft formuliert wird.
Sitten der Unsittlichkeit
Ein weiteres Problem ist, dass alle die, die zeigen wollen, dass es keine gültige Ethik geben kann und daher soll, dies nur deshalb zeigen können, weil ihre Ethik gilt. Denn sie fordern, was alle Ethiker immer gefordert haben: das richtige Leben. Sie behaupten ja, dass es vernünftiger sei, sich gegen die Ethik zu entscheiden. Sie argumentieren somit aus sittlichen Gründen gegen die Ethik. Das allerdings, finde ich, ist ein Taschenspielertrick: Zu sagen, es sei sittlich, keine Ethik zu haben. Hätten sie dann nicht besser geschwiegen, anstatt die bereits schon alexandrinisch angewachsene Bibliothek durch weitere Bände zu vergrößern? Man sollte sie aussondern …
Bücherverbrennung
… doch halt: Wäre es nicht unsittlich, diejenigen nicht zu Wort kommen zu lassen, die sagen, es gebe keine gültige Ethik?
Nein, das wäre nicht unsittlich. Man kann diese Bücher gewissensruhig ausrangieren und verbrennen – denn sie sagen ja, dass es keine gültige Ethik gebe. Also kann es auch nicht unsittlich sein, ein Buch zu verbrennen oder den Autoren sonst wie das Wort zu verbieten.
Oder andersherum argumentiert: Wenn es keine Ethik geben kann, könnte es dazu kommen, dass die Kritiker der Ethik diese ihre Kritik gar nicht formulieren könnten, weil man sie als Kritiker aussperrt, ausschließt, verbannt, vergiftet, enthauptet oder verbrennt. Das müssten sie dann allerdings akzeptieren. Denn sie bestreiten ja die Möglichkeit einer gültigen Ethik.
Ethik im Hinterhalt
Wer behauptet, dass es keine gültige Ethik gebe, kann dies nur, weil er eine gültige Ethik im Hinterhalt weiß, und zwar eine Ethik, nach der es erlaubt ist, dies zu behaupten. Er setzt eine gültige Ethik voraus, in der erlaubt wird, dass man sagen kann, was man denkt. Man darf zum Beispiel sagen, dass es keine gültige Ethik gebe.
Wenn man aber voraussetzt, dass es bereits eine gültige Ethik gibt, die gilt, und gleichzeitig mit der Sicherheit dieser Ethik im Hinterhalt sagt, es könne keine gültige Ethik geben, dann fallen Reden und Handeln doch sehr weit auseinander. Diese Ethiken halten sich nicht einmal selbst an die eigenen Regeln: „Gültig ist, dass es keine gültige Ethik geben kann.“ Wer das sagt, ist der Erste, der schon beim Aussprechen der Regel die soeben aufgestellte eigene Regel bricht. Kein guter Anfang! Und ließe sich nicht aus dieser Überlegung eine weitere Forderung an jede Ethik ableiten, nämlich …
(6) … dass eine Ethik sich beim Aufstellen der Regeln selbst an die Regeln halten muss, die sie aufstellt.
Buchausleihe: MRT (Lehrbuch der Magnetresonanztomographie)
Doch hier präsentiert sich ein ganz neues Buch in der Ethikbibliothek. Viel ausgeliehen: Es behauptet, dass wir keine Ethik bräuchten, weil das Handeln des Menschen determiniert sei, letztlich also unfrei. Das könne man sogar mit eigenen Augen sehen, nämlich dann, wenn man einen Menschen in ein MRT, einen Gehirnscanner lege. Da würde man sehen, dass die Entscheidungen schon gefällt sind, bevor sie das Bewusstsein erreichten.
Darauf würde ich antworten: „Wozu sagen Sie mir das? Sie brauchen gar nichts zu sagen. Denn alles ist determiniert. Schweigen wir doch einfach. Beide! Wenn unser Denken und damit unser Handeln determiniert sind, dann sind auch solche Behauptungen und Beobachtungen determiniert. Dann ist auch determiniert, dass ich jene Autoren nicht zu Wort kommen lassen werde. Ich kann ja nichts dafür. Alles ist determiniert, das haben die Autoren selbst gesagt. Stellen wir die Bücher weg.“
Wenn alles determiniert wäre, dann bräuchten wir auch keine Forschung. (Schon überhaupt keine, die eben dies feststellt.) Dann können wir uns das Geld sparen und in Urlaub fahren. Denn diese Forschung würde nur feststellen können, was auch ohne sie schon gilt und auch ohne sie vollzogen wurde und vollzogen werden wird. Denn es wäre ja alles determiniert. Wozu Hirnforschung, wenn sie nur das feststellt, was auch ohne Hirnforschung feststeht?