Mach's gut? Mach's besser!. Volker Ladenthin

Mach's gut? Mach's besser! - Volker Ladenthin


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Forschung – doch ein ganz klein wenig ändern kann, dann wäre nicht alles determiniert. Dann stimmt aber die Voraussetzung nicht. Wenn Neurowissenschaftler sagen: „Ja gut, nicht alles ist ganz determiniert“, dann beschäftigt sich die Ethik mit dem, was nicht determiniert ist. Es kann daher nicht die Vernunft sein, die determiniert ist, denn die fällt jetzt eine Entscheidung darüber, womit wir uns beschäftigen und womit nicht.

      (7) Ethik beschäftigt sich mit jenen Handlungen, die nicht durch die Natur determiniert sind.

      Neurowissenschaften lohnen daher nur, wenn sie Freiheit voraussetzen. Wenn nicht, sind sie vergebliche Forschungsmüh‘, weil sie nur beschreiben, was auch ohne sie geschäh‘. Erst wenn die Neurowissenschaftler in Bezug auf die menschliche Vernunft Freiheit voraussetzen, so dass man sich für, aber eben auch gegen die Hirnforschung entscheiden könnte, macht diese Forschung Sinn. Jedes Fördermittel für die Hirnforschung setzt also voraus, was manche Neurowissenschaftler nach Ausnutzung der Fördermittel bestreiten: die Freiheit, den richtigen Weg zu wählen. Vielleicht aber ist das Geschäft der Hirnforschung der Beweis für das, was Philosophen so gerne voraussetzen, aber nicht gut nachweisen können: die Freiheit des Menschen, sich selbst zu denken. Seine Würde.

      Damit haben wir einen weiteren Grundsatz der Ethik gefunden:

      (8) Ethik ist nur nötig und sinnvoll, wenn wir Freiheit voraussetzen.

      Wir müssen die Freiheit, uns entscheiden zu können, voraussetzen. Denn nur dann, wenn wir uns falsch entscheiden können, sind wir aufgerufen, uns richtig zu entscheiden. Nur dann können wir Verantwortung tragen, also Antwort auf einen Anruf geben: Handle richtig und gut!

       Dienst ist Dienst

      Nun erleben wir täglich, dass wir nicht frei sind: Wir möchten ausschlafen, aber unser Dienst beginnt um 8:00 Uhr. Die Stechuhr beschränkt unsere Freiheit der Zeitgestaltung. Wir möchten zur Arbeit radeln, wohnen aber im mietgünstigen Vorort. Keine freie Wahl des Verkehrsmittels. Wir haben Lust auf chinesisches Essen, aber in der Kantine gibt es nur Currywurst und Frikadelle. Wir möchten Urlaub machen, haben aber kein Geld. Wir möchten vorm Kino parken, aber da besteht Halteverbot. Und was sollen erst die Menschen sagen, die als Beamte weisungsgebunden sind? Oder was sollen die Insassen von Gefängnissen und Gefangenenlagern zu der These anmerken, dass alle Menschen frei sind?

      Wir leben in einem System von Regeln, die uns viele Freiheiten nehmen, die etwas vorschreiben oder verbieten, die Strafen androhen oder uns durch Belohnungen locken: Wenn du fleißig bist und tust, was man dir sagt, geht es dir besser!

       Der kleine Unterschied

      Aber haben Sie den kleinen Unterschied bemerkt? Ich hatte geschrieben: Die Regeln nehmen uns Freiheiten (Plural). Sie nehmen uns aber nicht die Freiheit (Singular). Freiheit ist etwas, was jedem Menschen zukommt; Freiheiten sind Handlungsmöglichkeiten, die man im zwischenmenschlichen Kontakt verteidigen, bewahren oder erstreiten muss. Und nun wird es scheinbar paradox: Die Unfreiheiten entstehen, weil alle Menschen frei sind … und frei sein wollen. Diese Unfreiheiten auf Grund von Freiheit nennt man manchmal Pflicht oder Gesetz.

      Der eine will um 14:00 Uhr die Freiheit haben, laut Musik zu hören. Sein Nachbar will um 14:01 Uhr die Freiheit haben, sein gewohntes Mittagsschläfchen zu halten. Beide Nachbarn haben die Freiheit der Wahl – Musik hören oder schlafen. Sie können sich diese Ziele setzen. Sie sind (wie die Philosophen sagen) prinzipiell frei. Aber weil alle Menschen prinzipiell frei sind, kann es zu Konflikten kommen, weil manche Freiheiten unverträglich zueinander sind: laut Musik hören und schlafen. Und nun beginnt man, angesichts von Freiheit die Freiheiten auszuhandeln, zu erstreiten, zu erkämpfen oder mit der Gewalt des Vorschlaghammers durchzusetzen. Was dann passiert, nennt man Geschichte. Unter der Perspektive der Ethik ist die menschliche Geschichte nichts anderes als das Austarieren von Freiheiten. Aber dass es eine Geschichte der Frei- und Unfreiheiten überhaupt gibt, setzt Freiheit voraus. Die Anthropologen sagen: Der Mensch ist dazu bestimmt, sich selbst zu bestimmen.

       Zur Freiheit bestimmt

      Ja, es kommt noch herber: Wir können uns entscheiden; und weil wir uns entscheiden können, müssen wir uns entscheiden. Denn es entscheidet sich nichts mehr. Nichts geschieht mehr von allein, wenn wir wissen, dass es nicht mehr von allein geschehen muss. Wir sehen zehn Eissorten, und wenn wir zum Eiskonditor sagen: „Egal, was Sie in den Eisbecher füllen“, dann haben wir uns entschieden. Für die Gleichgültigkeit. Wir müssen uns also immer selbst bestimmen. Koalabären müssen Eukalyptusblätter fressen. Ausschließlich. Uns sagt kein Instinkt, ob wir Austern schlürfen oder Leberkäs kauen sollen. Ob wir irrtümlich ausgezahltes Wechselgeld zurückgeben sollen oder nicht. Ob wir Hirnforschung subventionieren oder nicht. Wir können alles bedenken und dann entscheiden, was wir tun. Wir können uns daran orientieren, was uns guttut. Aber wir können uns auch anders entscheiden. Wir können regelmäßig ein Bierchen mehr trinken, viele süße Verführungen vor dem Fernseher naschen und unsere Gesundheit schädigen. Diese Freiheiten haben wir. Wir können gesund leben, aber wir müssen es nicht. Tiere müssen gesund leben. Ein Wolf wird vermutlich nie von sich aus vegan werden und ein Rindvieh kein Fleischfresser. Aber wir Menschen können uns entscheiden, was wir essen wollen.

      Damit ist auch die Frage beantwortet, ob der Mensch frei sein soll. Die Antwort: Er ist es. Er kann gar nicht anders. Wenn jemand sagt: „Ich will unfrei sein!“, dann ist das seine freie Entscheidung. Er muss sich entscheiden, indem er sagt: Jene Tiersorten streiche ich von meiner Speisekarte – und jene nicht. Vorgeschrieben ist das nirgends. Man muss Gründe finden. Diese Aufgabe, Gründe vortragen zu müssen, weil nichts von sich aus gilt, kann man Freiheit nennen. Freiheit ist also die Freiheit zum Begründen.

      Was genau wir begründen müssen, das hängt von den historischen und sozialen Umständen ab. Als Amerika von Europäern noch nicht entdeckt war, konnte man Floridas Strände nicht als Reiseziel wählen. Also war die Auswahl der Reiseziele begrenzt. Aber die Europäer konnten anderswo herumziehen.

      Jeder Mensch ist prinzipiell frei, aber er lebt in einem historisch entstandenen System von Freiheiten und Unfreiheiten, die er angesichts seiner prinzipiellen Freiheit gestalten muss. Das ist seine Chance … und seine Pflicht.

       Warum ist das so?

      Damit habe ich einen kleinen Freiheitsbeweis versucht. Aber ich habe nicht die Frage beantwortet, warum das so ist. Ich hatte schön verschleiernd geschrieben, dass dem Menschen „Freiheit zukommt“. Wer lässt sie ihm zukommen? Und nun bin ich in arger Bedrängnis. Ich muss offenbaren: Ich weiß es nicht. Ich glaube es zwar zu wissen, aber ich weiß es nicht sicher. (Davon später.)

      Denn wenn man sagt, dass der Mensch von Natur aus frei sei, hilft das auch nicht wesentlich weiter: Wer oder was ist „Natur“? Warum sollte diese personifizierte Natur ein Wesen hervorbringen, das sich gegen eben diese Natur (die es doch hervorgebracht hat) wenden kann? Was hat die Natur davon, dass sie ein Wesen herausmendelt, das sie, die Natur, abschaffen kann – z. B. durch extensive Nutzung, Verschmutzung oder Zerstörung? Schauen wir in der Bibliothek nach einer Antwort.

       Kakerlaken (Buchausleihe)

      Manche Ethikbücher der Bibliothek enthalten Evolutionstheorien oder suchen Hilfe bei der Verhaltensforschung („Ethologie“). Sie legen nahe, dass sich freie und vernünftige Wesen besser an die jeweiligen Umstände anpassen können als unfreie Wesen. Die Evolution habe den freien Menschen hervorgebracht.

      Da habe ich nun große Zweifel. Wenn man nämlich in zoologischen Fachbüchern nachschlägt, erfährt man, dass die liebenswürdigen Kakerlaken älter als die Menschheit sind und fähig, unter fast allen Umweltbedingungen zu überleben. Nur wenn man mit dem Hammer draufschlägt, bekommt man sie klein. Dann stehen aber schon zehn neue Kakerlaken zur Vermehrung bereit. Es sind wahre Überlebenskünstler. Sie sollen zudem resistent gegenüber radioaktiver Bestrahlung sein. Sie können nicht anders als zu überleben.

      Noch ist die Geschichte nicht zu Ende, und wir wissen nicht, ob am Ende die Erde von Menschen oder von Kakerlaken bevölkert sein wird. Bleiben am Ende die


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