In der Fremde glauben. Torsten W. Müller

In der Fremde glauben - Torsten W. Müller


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Die zeitliche Begrenzung bis 1955 liegt darin begründet, dass zu Beginn der 1950er Jahre die Anzahl der Quellen, in denen die Vertriebenen erwähnt werden, rapide abnimmt. Die Behörden der DDR führten schon nach 1949 keine Statistiken zu dieser Bevölkerungsgruppe mehr und propagierten eine gelungene und beendete Integration der Flüchtlinge. Mit dem Auslaufen der letzten sozialen Sondermaßnahmen für „Umsiedler“ 1953 stellte die DDR ihre Vertriebenenpolitik vollständig ein und belegte diese Thematik mit einem strengen Tabu.75

      Zur Logik der Terminierung gehört, dass bereits 1947/1948 die Auseinanderentwicklung von Ostzone und Westzonen unübersehbar war. Die Gründung beider deutscher Staaten zeigte deutlich, dass die geschaffenen Verhältnisse sich nicht wesentlich verschieben würden. Mit der doppelten Blockintegration 1955 – Beitritt der Bundesrepublik zur NATO und der DDR zum Warschauer Pakt – schien die deutsche Teilung irreversibel geworden zu sein.76

      Vor allem innerkirchliche Gesichtspunkte sprechen dafür, Mitte der 1950er Jahre eine weitere Zäsur anzusetzen. Das kirchliche Leben der Nachkriegsjahre war durch einen beharrlichen und mühevollen Aufbau charakterisiert. Enorme Anstrengungen wurden unternommen, um die Pastoral und die seelsorglichen Einrichtungen aufzubauen und zu festigen. Zahlreiche Schuppen, Garagen oder Gasthäuser wurden zu Gottesdiensträumen umgebaut, und einige wenige Kirchenneubauten entstanden.77 Diözesane Verwaltungen mussten aufgebaut oder neu geordnet werden, da die Kommunikation zu den im Westen liegenden Ordinariaten weiter eingeschränkt wurde.78 Als eine zentrale Form der Kirchenorganisation auf dem Gebiet der SBZ/DDR wurde von Pius XII.79 1950 die „Ostdeutsche Bischofskonferenz“ gegründet.80 Besonders die Frage des Priesternachwuchses verlangte nach einer Lösung: 1952 wurden das „Philosophisch-Theologische Studium Erfurt“ und das „Alumnat“ eröffnet und waren die einzigen Ausbildungsstätten für katholische Theologinnen und Theologen in der ehemaligen DDR.81 Weitere Institutionen wurden in Magdeburg, Halle und Schöneiche gegründet, um dem Erfurter Studium den Nachwuchs zu sichern.82 In den neu errichteten Seminaren auf der Huysburg und in Neuzelle verbrachten die Diakone die letzte Zeit vor der Priesterweihe.83 Auch die Gründung von Ausbildungsstätten für Seelsorgehelferinnen fällt in diese Periode.84 Vor allem der Aufbau des katholischen St.-Benno-Verlages Leipzig war für den Auftrag der Glaubensverkündigung und eine christliche Lebenshilfe von immenser Bedeutung.85 So können die Jahre bis 1955 für die katholische Kirche in der DDR durchaus als fruchtbare Wachstumsjahre definiert werden, in denen sich u.a. eine umfangreiche Bautätigkeit und eine lebhafte Gemeindearbeit auf allen Gebieten entfaltete.86

      In diesem Zeitraum bildete sich eine eigene Mentalität innerhalb der katholischen Kirche in der DDR heraus, die – anders als am Ende der 1940er Jahre – Kirche im totalitären Staat für notwendig und möglich hielt. Könnte es nicht sein, dass lebendige „Flüchtlingsgemeinden“ samt erfolgreichen Pastoralkonzepten und Seelsorgsinitiativen sowie im äußeren Bereich Gottesdiensträume und Seelsorgestellen usw. dazu beigetragen hatten, ein neues Bewusstsein von katholischer Kirche in Mitteldeutschland herbeizuführen? Bischöfliche Äußerungen zum Überleben in der Diaspora und zur Notwendigkeit von Kirche in der DDR belegen dies.87 So kann man mit Josef Pilvousek davon sprechen, dass etwa ab Mitte der 1950er Jahre ein innerer Wandlungsprozess einsetzte: von einer „Flüchtlingskirche“ zur „Katholischen Kirche in der DDR“.88

      Gleichzeitig begann der Staat damit, den Einfluss der Kirchen zurückzudrängen. Der Leipziger Oratorianer Wolfgang Trilling fasste diese Phase bis 1955 unter dem Stichwort „harte Fronten“ zusammen.89 Die Jahre nach 1955/1956 nannte er „Scheidung und Läuterung“, da nun die weltanschauliche Position der SED auch für den Staat kompromisslos als Grundlage ausgegeben wurde.90 Sichtbar wird dies unter anderem an der Einführung kultischer Ersatzhandlungen (Jugendweihe usw.) und dem ständig größeren Druck, der auf die katholische Kirche ausgeübt wurde – zum Teil mit einer primitiven, aggressiven und oft vulgären antireligiösen Propaganda.91 Somit scheint es legitim, das Jahr 1955 als Zäsur anzusehen und den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit auf die Jahre von 1945 bis 1955 zu beschränken.

       1.4 Aufbau und Methode

      Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Forschungslage wird die folgende Untersuchung den Transformationsprozess der katholischen Kirche im Ostteil des Bistums Fulda im Hinblick auf das Einströmen der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen rekonstruieren. Für die Kirche stellten diese erzwungenen Migrationen eine besondere Herausforderung dar. Es ist zu fragen, wie die katholische Kirche damals organisiert war, welche institutionellen und personellen Strukturen bzw. Hierarchien es gab und wie Entscheidungsprozesse abliefen. Eine besondere Rolle spielen dabei der „Traditionstransfer aus dem Osten“92 sowie die Mentalitäten der unterschiedlichen Landsmannschaften, die analysierend darzustellen sind, um ihre Wirkungen in Pastoral und Liturgie in den gewachsenen oder neu entstandenen katholischen Gemeinden aufzeigen zu können.

      Ziel der Arbeit wird es auch sein, darzustellen, wie die katholische Kirche auf die sich ergebenden Aufgaben, Probleme und Chancen reagierte. Unter welchen Umständen erfolgten Ankunft, Aufnahme und Eingliederung der heimatvertriebenen Katholiken, Priester und Ordensleute in diesem Territorium? Welche Rolle spielten Glaube und Kirche bei dem Prozess der allmählichen Beheimatung in den neu entstehenden Gemeinden? Dabei sollen vor allem auch personelle, strukturelle, mentale und geistlich-theologische Veränderungen der Aufnahmegemeinden dargestellt werden, die die pastorale Besonderheit des Jurisdiktionsbezirks – des heutigen Bistums Erfurt – ausmachen. Zentrale „Bausteine der konfessionellen Identität“93 und der Beheimatung werden eingehend beschrieben und anhand konkreter Fallbeispiele untersucht.

      Zu den Forschungsdesideraten der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung gehören vor allem auch die informellen Verbindungen innerhalb der Gruppe der Vertriebenen – unter Umgehung des staatlichen Koalitionsverbotes – und ihre Auswirkungen auf die Identitäten der Zugezogenen. Trotz der repressiven Grundhaltung des herrschenden Regimes konnten im ersten Nachkriegsjahrzehnt unter den Vertriebenen viele Selbstorganisations- und Kommunikationsphänomene beobachtet werden, die von der Forschung bisher nur unzureichend wahrgenommen und gewichtet worden sind.94 Außerdem lässt eine Analyse der Medien der Meinungsbildung, d.h. kirchliche Zeitungen und Literatur der (Vertriebenen-)Seelsorge, aufschlussreiche Ergebnisse erwarten.95

      Es ist weiterhin auf das Phänomen einzugehen, dass große Teile der geflüchteten und vertriebenen Katholiken nach einigen Jahren offenbar ihre (äußere) Kirchenbindung verloren haben. Es wird zu untersuchen sein, wie dabei der politische Druck einerseits und der Verlust der aus der alten Heimat überkommenen Volkskirchlichkeit andererseits zusammenhängen, da im Ostteil der Diözese Fulda auch durch den Zuzug der „Neubürger“ keine Volkskirche entstehen konnte, sondern die Diasporasituation für die gesamte DDR-Zeit prägend bleiben sollte.

      Die Arbeit gliedert sich in drei große Kapitel: Die Voraussetzungen der Vertriebenenseelsorge, die Wege zu Identität und Beheimatung sowie die Vorstellung kirchlicher Akteure in diesem Prozess. Im ersten Kapitel werden die verschiedenen Migrationsbewegungen nach Mitteldeutschland und die damit verbundenen Herausforderungen für die katholische Kirche beschrieben; breiteren Raum nimmt die Ankunft der Heimatvertriebenen aus Ostmitteleuropa ein. Die personellen und jurisdiktionellen Änderungen der Diasporakirche im Ostteil der Diözese Fulda stehen dabei im Mittelpunkt.

      Das zweite Kapitel beschreibt die verschiedenen Wege der Identitätssuche und Versuche der Beheimatung der katholischen Heimatvertriebenen im Aufnahmegebiet. Allen voran stehen die Hilfen der Caritas, die Zugezogenen leiblich zu versorgen. Daneben war man aber ebenso bemüht, den Vertriebenen eine seelsorgliche Betreuung zukommen zu lassen. Ziel aller Seelsorge war die Sammlung der Katholiken und der Aufbau von Gemeinden. Dieser Prozess wurde geistlich begleitet von theologischen Deutungen, die man mit dem Begriffspaar „Heilige Heimat“ zu umschreiben suchte. Das Themenfeld Wallfahrten gilt es ebenso, hinsichtlich der Thematik zu untersuchen. Die Begegnungen der Konfessionen waren im Aufnahmegebiet geradezu unumgänglich, wobei die Nutzung evangelischer Kirchen für den katholischen Gottesdienst eine „räumliche Ökumene“ beförderte.


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