In der Fremde glauben. Torsten W. Müller
kirchlichen Akteure in diesem Prozess der Ankunft, Aufnahme und Beheimatung stehen im Mittelpunkt des dritten und letzten Kapitels: Priester, Seelsorgshelferinnen und Ordensangehörige, die nach Mitteldeutschland einströmten. Ein Resümee rundet die Arbeit ab.
Um das Thema vernetzt und perspektivisch darstellen zu können, werden verschiedene methodische Ansätze gewählt. Mit der ereignisgeschichtlichen Methode wird deskriptiv der Ablauf der Geschehnisse der Jahre 1945 bis 1955 dargestellt. Anhand der strukturgeschichtlichen Methode werden die Aufnahmegebiete näher in den Blick genommen, um gleichsam komparativ Mentalitäten, „Milieus“ sowie kirchliche und weltliche Eliten zu untersuchen. Die ideengeschichtliche/theologische Methode greift das Thema unter einem anderen Gesichtspunkt auf, wobei besonders theologische Grundüberzeugungen, seelsorgliche Konzepte und deren Auswirkungen auf die Pastoral in einer zunehmend säkularen Umwelt reflektiert und dargestellt werden.
1.5 Quellen
Die Dissertation fußt primär auf schriftlichen Quellen unterschiedlichster Provenienz, die sich in den Archiven des Landes Thüringen befinden. Vor allem wurden kirchliche Archive konsultiert. Hier wäre zunächst das Bistumsarchiv der Diözese Erfurt zu nennen, das eine nahezu lückenlose Überlieferung an Akten aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 aufweist. Dies sind vor allem die so genannten „Flüchtlingsakten“, von denen man einen guten Überblick über die ersten Nachkriegsjahre in Mitteldeutschland bekommt. Aber auch Aktenbestände, die die Seelsorge und Caritas betreffen, die Stellenakten der einzelnen Pfarreien und Seelsorgestellen sowie der allgemeine Aktenbestand der Nachkriegsjahre wurden ausgewertet. Weiterhin enthält das Archiv die Korrespondenz der thüringischen Geistlichkeit mit der Diözesanleitung in Fulda, die Aufschluss über die sich seit 1945 entwickelnden eigenen jurisdiktionellen Verhältnisse in Thüringen gibt. Das Bistumsarchiv in Fulda bewahrt Akten über die Beziehungen des westlichen Diözesananteils zu seinem in der SBZ gelegenen Territorium. Auch die Flüchtlingsproblematik wird hierin vermehrt thematisiert. Das Archiv des Erzbistums Köln enthält Akten der Kriegs- und Nachkriegszeit, die auch das Bistum Fulda betreffen, da rheinische Katholiken während des Bombenkrieges in Thüringen untergebracht waren und der damalige Kölner Erzbischof Josef Frings96 nach 1945 Anlaufstelle für ostdeutsche Flüchtlinge und ihre Anliegen war. Sie wurden für eine Auswertung ebenso herangezogen wie die Überlieferungen im Bischöflichen Kommissariatsarchiv Heiligenstadt, im Bischöflichen Bauamt Erfurt und in Ordensarchiven.
Um die Vertriebenen-Thematik in Thüringen möglichst detailliert darzustellen, konnte auf die intensive Recherche in den einzelnen Pfarrarchiven der Städte und Dörfer Thüringens nicht verzichtet werden. Dort befindliche, handgeschriebene oder gedruckte Pfarrchroniken ehemaliger Seelsorger und relevante Akten haben die Arbeit in wesentlichen Punkten ergänzt.
Neben kirchlichen wurden auch staatliche Archive für die Dissertation herangezogen. Vor allem das Hauptstaatsarchiv in Weimar enthält Akten der Sowjetischen Militäradministration in Thüringen, Akten der ersten Nachkriegs-Landesregierung und Akten der Thüringer SED. Auch die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR wurden für das Projekt eingesehen und ausgewertet, da bereits in den 1950er Jahren die Tätigkeiten der katholischen Kirche immer Anlass für eine Überwachung durch MfS-Mitarbeiter waren. Das Bundesarchiv in Berlin enthielt wichtige Details, genauso wie das Staatsarchiv Gotha, das Stadtarchiv in Heiligenstadt und das Archiv des Landkreises Eichsfeld.
Selbstverständlich gilt, dass nicht allen Überlieferungen der gleiche Quellenwert zukommt. Besonders die unter zahlreichen Enttäuschungen und Entbehrungen verfassten Erlebnisberichte offenbaren eine selektive Wiedergabe der Wirklichkeit. Die staatlichen Akten geben die kirchlichen Zusammenhänge und Lebensvollzüge oftmals verkürzt, zumeist aber verfälscht wieder.
1G. Dolge, Die Kirche, die aus dem Osten kam, in: Freies Wort. Ilm-Kreis, 5.12.2012. Der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek griff diese journalistische Formulierung auf und verwendete sie als Titel für seine Abschiedsvorlesung am 7.6.2013 im Erfurter Mariendom. J. Pilvousek, "Kirche, die aus dem Osten kam". Zum Stand zeitgeschichtlicher Katholizismusforschung in den Neuen Ländern, in: Jahrbuch für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte 9 (2013) 277-287.
2Joachim Garstecki, der frühere Generalsekretär von „Pax Christi“, vermittelte einen ersten Einblick in die Problematik, als er 1992 in einem Interview über die Katholische Kirche in der Bundesrepublik und in der ehemaligen DDR sowie den Einigungsprozess sagte: „[…] es stoßen im Grunde zwei sehr unterschiedliche Katholizismen aufeinander: Im Westen der im wesentlichen rheinisch-westfälisch geprägte, der auch gewohnt ist, sich politisch zu artikulieren, und der nicht gerade durch eine große Staatsferne charakterisiert ist; im Osten dagegen ein im wesentlichen schlesisch geprägter Katholizismus. Da gibt es schon rein mental Unterschiede, wie man sie sich größer gar nicht vorstellen kann. Der politisch erprobte, wache, rheinisch-westfälisch geprägte Katholizismus stößt auf einen schlesischen Katholizismus in Berlin, Görlitz oder Meißen, der gegenüber Staat und Öffentlichkeit seit den Kulturkampfzeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts äußerst defensiv eingestellt ist. Das kann auf Anhieb gar nicht zu einer lockeren und lebbaren Synthese führen. Da gilt es Spannungen zu überwinden.“ M. Höllen, Loyale Distanz? Katholizismus und Kirchenpolitik in SBZ und DDR. Ein historischer Überblick in Dokumenten. Bd. 3 (1966-1990), 2. Teil-Band: 1977 bis 1990, Berlin 2000, 333.
3Vgl. zum Begriff den Sammelband J. John (Hg.), "Mitteldeutschland". Begriff - Geschichte - Konstrukt, Rudolstadt 2001.
4Vgl. H.-G. Aschoff, Diaspora in der DDR, in: E. Gatz (Hg.), Katholiken in der Minderheit. Diaspora – Ökumenische Bewegung – Missionsgedanke (Geschichte des kirchlichen Lebens in den deutschsprachigen Ländern seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Katholische Kirche III), Freiburg-Basel-Wien 1994, 127-133.
5Das Begriffspaar „Flucht und Vertreibung“ wird in der zeitgeschichtlichen Forschung und auch in vorliegender Arbeit oft verkürzend benutzt, um die aufeinander folgenden Ereignisse von Flucht, Vertreibung und (Zwangs-)Aussiedlung der Deutschen aus Ostmitteleuropa im Kontext des Zweiten Weltkrieges konzise zu beschreiben. Vgl. K. E. Franzen / S. Troebst, Vertreibung, in: Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien-Köln-Weimar 2010, 693-696, hier 695.
6Vgl. J. Pilvousek, Flüchtlinge, Flucht und die Frage des Bleibens. Überlegungen zu einem traditionellen Problem der Katholiken im Osten Deutschlands, in: C.-P. März (Hg.), Die ganz alltägliche Freiheit. Christsein zwischen Traum und Wirklichkeit (EThSt 65), Leipzig 1993, 9-23.
7Die Vertreibung der Deutschen nach 1945 lässt sich nicht monokausal erklären oder begründen. Sicher spielen der durch die Gewaltpolitik im Zweiten Weltkrieg geweckte Hass auf die Deutschen sowie die sehr viel älteren Nationalitätenkonflikte und deren nationalistische Homogenisierungsvorstellungen eine bedeutende Rolle. Vgl. M. Schwartz, Vertriebene und Umsiedlerpolitik. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945-1961 (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 61), München 2004, 48f.
8Vgl. A. Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der "Großen Drei" (Dokumente zur Außenpolitik 1), Köln 21973. W. Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart), München 31994. H. Graml, Die Alliierten und die Teilung Deutschlands. Konflikte und Entscheidungen 1941-1948, Frankfurt am Main 1985.
9Vgl. B. Meissner, Die Deutschen Ostgebiete auf den Kriegs- und Nachkriegskonferenzen der Alliierten, in: H. Rothe (Hg.), Die historische Wirkung der östlichen Regionen des Reiches. Vorträge einer Tagung zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1989, Köln-Weimar-Wien 1992, 259-297.
10Die Zahlen schwanken zwischen 12 und 15 Millionen. Grundsätzlich ist wohl davon auszugehen, dass statistische Angaben einen Trend wiedergeben, aber kaum präzise Zahlen.