Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein

Es war eine berühmte Stadt ... - Christian Klein


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und auch Herrscherinnen ranken. Nicht zu vergessen sind die Erzählungen über die Ursprünge und die Gründung der Stadt Mainz. Einer solchen, nämlich der Pilatussage in einer lateinischen Fassung des 12. Jahrhunderts, entstammt im Übrigen das Titelzitat „Es war eine berühmte Stadt“. Einbezogen wurde schließlich auch der bedeutende Mainzer jüdische Sagenkreis. Die ausgewählten Erzählungen spielen alle in der Zeit vor dem Jahr 1100. Bis auf zwei Ausnahmen sind sie im Laufe des Mittelalters entstanden.

      Wer jedoch erwartet, in den einzelnen Beiträgen über den „historischen Kern“ dieser Erzählungen aufgeklärt zu werden, muss enttäuscht werden. Denn durch das Entfernen alles „Geheimnisvollen“ lässt sich dieser nicht entdecken. Zwar wird die Historizität der einzelnen Personen, Ereignisse und Monumente, von denen in den Erzählungen die Rede ist, durchaus thematisiert. Das Erkenntnisinteresse wird jedoch nicht von der Frage bestimmt, was an einer Sage oder Legende wahr oder falsch ist. Gezeigt werden soll vielmehr, warum diese Erzählungen im Mittelalter entstanden sind, wie sie im Laufe der Jahrhunderte verändert worden sind und welche Funktionen sie dabei erfüllt haben. Dass sich nicht selten Traditionslinien bis in unsere heutige Zeit ergeben, unterstreicht die Aktualität dieser Erzählungen. So gelesen, erfährt man von ihnen vor allem etwas über die Zeit, in der sie kursierten, und über die Vorstellungen derer, die sie rezipierten und verwendeten. Nach einem vorangestellten zentralen Quellenzitat werden daher in den einzelnen Beiträgen Entstehung, Wandel und Funktion der Sagen und Legenden vom Mittelalter bis in die Gegenwart analysiert.

      Für die Idee, sich unter diesem Aspekt mit den Mainzer mittelalterlichen Sagen und Legenden intensiver zu beschäftigen, konnten elf Autorinnen und Autoren gewonnen werden, denen mein großer Dank für ihre Unterstützung und Geduld gilt. In der Mehrzahl handelt es sich um Erstveröffentlichungen; bereits an einem anderen Ort publizierte Beiträge sind für diesen Band entsprechend überarbeitet worden. Dass die Beiträge im „Neuen Jahrbuch für das Bistum Mainz“ einen idealen Erscheinungsort gefunden haben, freut mich ganz besonders. Für die Aufnahme danke ich recht herzlich der Herausgeberin der Reihe, Frau Dr. Barbara Nichtweiß, die zusammen mit Frau Gabriela Hart auch die Arbeit der Endredaktion und des Layouts der Beiträge übernommen hat. Wichtige Unterstützung bei den bibliographischen Korrekturen leistete außerdem Frau Susanne Speth. Last, but not least habe ich den „Rebläusen“ zu danken: In diesem der Mainzer Geschichte verpflichteten Kreis von Theologen, Historikern und Kunstwissenschaftlern, der nun schon seit 75 Jahren existiert, wurde so manches vordiskutiert. Zum Schluss bleibt nur zu wünschen, dass das Buch zum Verständnis von Sagen und Legenden als bedeutendem Phänomen der Mainzer Erinnerungskultur Wesentliches beitragen möge.

      Mainz, im Juli 2016

       Wolfgang Dobras

      TEIL I

      ERZÄHLUNGEN ZU DEN ANFÄNGEN VON MAINZ

      MAINZER URSPRUNGSSAGE(N)

      Mittelalterliche Erzählungen über die Gründung von Mainz

       Uta Goerlitz

      „In Asien gab es einen König […], der hieß Pilis, der hatte einen Sohn, der Treverus genannt wurde. Treverus sprach, er wollte schauen, was jenseits des Meeres wäre. So fuhr er nach Europa, das ist: die Gegend, […] in der Trier liegt, und die Gegend gefiel dem König sehr. Er errichtete da eine Stadt, das war die erste Stadt, die seit der Sintflut jemals in Europa errichtet worden war; denn in Europa gab es niemanden als den König Treverus und sein Volk, das mit ihm gekommen war. Die Stadt, die da von ihm errichtet wurde, das ist das nach dem hochgeborenen König benannte Trier. Wie ich berechnet habe, wurde die Stadt Trier erstmalig 1603 Jahre vor Christi Geburt erbaut […].

      560 Jahre später, am dritten Tag nach Sankt Georg, das ist im Monat April, da lebten 12 Gelehrte, darunter vier Rechtsgelehrte, die erbauten mit ihrem Wissen eine Stadt, die Menz genannt wurde. Wer bei ihnen lernen wollte, der konnte sich zur Unterweisung dorthin begeben. Wiederum 608 Jahre später wurde Rom erbaut […]. Da gelangte ein Kaiser an die Macht, der hieß Trusus […].“

      Freie Übersetzung aus der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ (Terminus post quem ca. 1335, um 1443/44?) in der sog. Windeck-Fassung in Eberhard Windecks „Buch von Kaiser Sigismund“.

      Im Wortlaut der sog. Windeck-Fassung:

      es was ein konig in Asia […], der hieß Pilis und der hette einen son, der was genant Treverus.a der selbe Treverus sprach, er wolte besehen, was über mer were, und für in E<u>ropam, daz ist dis lant, […] do Trier litb, und daz lant dem konige wol behaget. do macht er ein stat, daz was die erst stat, die sider der sinflůt in E<u>ropia ie wart gemacht; und in Europia waz niemant dannec der konig Treverus und sin volg, daz mit ime komen was. die stat, die do von ime wart ufgeleitd, daz ist Trier noch deme edelen konige genant. die stat Trier wart zü dem ersten gebuwen, als ich gerechnet han vor Cristus geburt 16hundert und dri jor […].

      darnoch uber 500 jor und in dem 60. jor uf den dritten tag noch sant Gregorien tag, das ist in dem kalender aprilie, do worent 12 meisterf, der worent vier rehtmeisterg und die leitent ein stat ufh noch irer kunste, die hiez nu Menz; und wer von in lernen wolt, der solt dar farn zü schüleni darnoch über sehshundert jor und acht jor wart Rom ufgeleit […]. do wart ein keiser hieß Trusus […].

      Zitat nach der Ausgabe von Eberhard Windecks „Buch von Kaiser Sigismund“ von Wilhelm Altmann von 1893 (Anmerkungen von der Verfasserin).

       I. Terminologie und Gegenstand

      Sagen gelten seit der Romantik als lange tradierte, mündliche Erzählungen von außergewöhnlichen Ereignissen, deren Kern von den Tradierenden für wahr gehalten wird; das unterscheidet sie vom Märchen. Den bekannten Sagensammlungen der Brüder Grimm aus dem frühen 19. Jahrhundert etwa liegt die für die Romantik kennzeichnende Auffassung zugrunde, Sagen verdankten sich der kollektiven Erinnerung des Volkes, seien „Volksdichtung“1. Dabei wurde übersehen, dass Sagen zwar, wie eine einschlägige literaturwissenschaftliche Definition lautet, „Ausdruck kollektiver Mentalitäten“ sind, die „vorgeblich wahre Begebenheiten mit dem Ziel der Orientierung in der Welt“ tradieren und „eine psychologische oder eine soziale“ Funktion haben, wie das prinzipiell auch für Herkunftssagen wie diejenigen von Mainz gilt.2 Doch müssen sie deshalb nicht auch einen mündlichen Ursprung haben – in den „für uns offenkundig sagenhaften Texten in mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Chroniken“ haben sie ihn sogar „in der Regel nicht“.3 Oft verdanken sich Sagen schriftsprachlicher Konstruktion, so dass mit Auftraggebern und Verfassern gerechnet werden muss, die sie mit variierender Zielsetzung in Umlauf brachten.

      So gibt es auch in Mainz im Mittelalter nicht die eine Mainzer Ursprungssage, sondern mehrere Versionen und innerhalb von diesen demgegenüber weniger stark variierende Fassungen4, die zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, teilweise miteinander konkurrierten und sich partiell überlagerten. Am Ende des Mittelalters, seit dem 15./16. Jahrhundert, begann man, diese Texte aus dem neuartigen historisch-kulturellen Interesse des Humanismus heraus zu sammeln, sie zu kompilieren und dabei teils auch mit neu gewonnener methodischer Kritik zu bewerten, bevor im 19. Jahrhundert im Gefolge der Romantik systematisch die großen nationalen und regional-heimatkundlichen Sagensammlungen entstanden. Seitdem wurden und werden die alten „Sagen“ vielfach wiedererzählt, was ausschmückende Erweiterungen ebenso beinhaltet wie Kürzungen oder die Neukombination traditioneller Motive.5

      An den Anfang dieses Beitrags ist eine Version der Mainzer Ursprungssage gestellt, die drei Besonderheiten aufweist:

      Erstens ist sie bereits im Mittelalter in deutscher Sprache überliefert, was keineswegs selbstverständlich ist, stammen etliche heute noch bekannte „Sagen“ doch aus der gelehrten lateinischen (chronikalischen) Überlieferung. Die Wahl der Volkssprache für die in Rede stehende Prosaerzählung über den Ursprung von Mainz impliziert dabei literaturgeschichtlich von vornherein eine vergleichsweise späte Überlieferung. Im konkreten Fall liegt das frühestmögliche Entstehungsdatum nach ca. 1335, ohne dass mit diesem Terminus


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