Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein
und ein zeitgenössischer Historiograph fügte in Anbindung an die zitierte Legendenüberlieferung im oben erwähnten Sinn hinzu: „so dass man glauben konnte, die Stadt sei von Drusus sozusagen von Neuem errichtet“56.
In den zuletzt zitierten Beispielen deutet sich an, wie sich die diversen Mainzer Gründungsgeschichten gegebenenfalls auch miteinander kombinieren ließen. Auf dieselbe Weise konnten auch die beiden betrachteten Versionen von der Erbauung der Stadt durch den Trojaner Maguntius oder aber schon früher durch Magier aus dem vorzeitlichen Trier miteinander verbunden werden. Je nachdem, welche Motivkomplexe kombiniert und dabei gegebenenfalls variiert wurden, konnte Mainz dann als ein Gemeinwesen erscheinen, das von mehr oder weniger negativ gezeichneten und kürzere oder längere Zeit nach König Trebeta lebenden Magiern aus Trier gegründet wurde, während der Trojaner Maguntius Mainz zu einem späteren Zeitpunkt vergrößerte und verschönerte. Maguntius, so eine von Hermannus Piscator im frühen 16. Jahrhundert erörterte Variante, habe Mainz mit Mauern umgeben57: Erst durch ihn wurde Mainz recht eigentlich zur Stadt, erst jetzt erhielt die alte Siedlung, wie das Attribut des Mauerkranzes anzeigt, städtische Qualität – eine Konstruktion, die sich dem Versuch des im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit stehenden Mainzer Gelehrten verdankt, das historisch inkompatible Neben- und Ineinander der diversen Stadtgründungsgeschichten zu entwirren, denn so wurde es erklärbar, wenn manche Zeitgenossen, wie Piscator bemerkt, sozusagen versehentlich Maguntius anstatt die alten Treverer für den Gründer der Stadt hielten.
Kombinierte man die einzelnen Versionen solcherart, blieb Mainz eine der allerersten Städte Europas, die über den Trierer Heros eponymos Trebeta und die berühmten, aus Trier stammenden Mainzer Magier mit der Frühzeit des assyrischen Weltreichs verbunden war und lange vor Rom erbaut wurde; gleichzeitig musste nicht auf eine vornehme, demgegenüber jüngere trojanische Vergangenheit verzichtet werden, mit der die Parallele zu den Anfängen Roms gezogen war. Durch die zusätzliche Integration der Figur des Drusus in den gesamten Erzählkomplex war darüber hinaus die Teilhabe von Mainz am Aufstieg des Imperium Romanum gesichert, wobei auch hier wieder einzelne, variable Elemente aus unterschiedlichen Deutungsperspektiven in verschiedener Weise determiniert werden konnten. Widersprüche und Verwerfungen sind durch das von veränderlichen Wertungshorizonten und Aussageinteressen bestimmte, sich über mehrere Generationen hin erstreckende Kombinations- und Amplifikationsverfahren daher vorprogrammiert und kaum überraschend. Sie kennzeichnen auch die zu Beginn und im Verlauf dieses Beitrags angesprochene nachmittelalterliche Überlieferung der verschiedenen Versionen vom Ursprung von Mainz und dauern bis in die Gegenwart an.58 Dabei sind die alten Herkunftserzählungen, vielfach „als Steinbruch“ benutzt, zu „eine[r] in hohem Maße literarischen Erscheinung“ mit anderer Funktion geworden.59 Diese jüngeren „Sagen“ haben mit der älteren Überlieferung oft nicht viel mehr gemeinsam als die zu Beginn dieses Beitrags problematisierte Begrifflichkeit, die eine „konsequente Historisierung“60 erfordert, will man durch die Sedimentschichten der neuzeitlichen „Sagen“-Bearbeitungen wieder zurück ad fontes gelangen.
a Der vorliegende Text stellt eine in der Forschung als Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ bekannte, spätmittelalterliche Version der Mainzer Ursprungssage in einer Fassung dar, die im „Buch von Kaiser Sigismund“ des Eberhard Windeck (ca. 1380–1440) überliefert ist, nach dem der Text hier zitiert wird (Auszeichnungen einzelner Wörter durch fette oder recte gesetzte Schrift sind aus der Ausgabe übernommen): Eberhard Windecke, Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Zeitalters Kaiser Sigmunds, hg. von Wilhelm Altmann. Berlin 1893, hier S. 456–458 (auch Online: URL <https://archive.org/details/altmanneberhartwindecke> [Permalink]); die Ausgabe gilt als unzulänglich, eine Neuedition ist durch Joachim Schneider (Mainz) in Vorbereitung, vgl. unten Anm. 8.
b lit] nhd. ‚liegt‘. Nachweise aus Wörterbüchern sind im Folgenden in Sonderfällen angegeben. c danne] nhd. ‚als‘.
c danne] nhd. ‚als‘.
d ufgeleit] nhd. ‚errichtet‘, ‚erbaut‘.
e Gemeint ist wohl der Gedenktag des Heiligen Georg am 23. April. Mainz soll also am 26. April des Jahres 560 nach der 1603 v. Chr. erfolgten Gründung von Trier erbaut worden sein, was wiederum 608 Jahre vor der Gründung Roms gewesen sei (vgl. weiter unten im zitierten Abschnitt).
f meister] nhd. ‚Gelehrte‘.
g rechtmeister] nhd. ‚Rechtsgelehrte‘, vgl. hier Deutsches Rechtswörterbuch online, URL <http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/> (Permalink), s. v. „rechtmeister“.
h leitent… uf] nhd. ‚errichteten‘, ‚erbauten‘.
i der solt dar farn zü schülen] „der konnte sich zur Unterweisung dorthin begeben“.
1 Vgl. z. B. die Vorrede der Brüder Grimm zu den sog. ‚historischen Sagen‘ ihrer Sammlung: Jacob GRIMM und Wilhelm GRIMM (Hg.), Deutsche Sagen, 2 Bde. Berlin 1816–1818, hier Bd. 2, S. VI.
2 Norbert VOORWINDEN, Art. Sage. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, hg. von Klaus Weimar gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller. Berlin 2003, S. 347–350, hier S. 350 und 347f. Vgl. in diesem Kontext grundlegend Wolfgang SEIDENSPINNER, Sage und Geschichte. Zur Problematik Grimmscher Konzeptionen und was wir daraus lernen können. In: Fabula 33 (1992) S. 14–38.
3 Helge GERNDT, Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. In: Fabula 29 (1988) S. 1–20, hier S. 4. Vgl. zu den im Fließtext skizzierten Einschränkungen, unter denen der Sagenbegriff im Folgenden partiell beibehalten wird, grundsätzlich auch Klaus GRAF, Thesen zur Verabschiedung des Begriffs der ‚historischen Sage‘. In: Fabula 29 (1988) S. 21–47; DERS., Art. Sage. In: LMA Bd. 7, 2002, Sp. 1254f (hier zit. aus der Online-Ausgabe: Brepolis Medieval Encyclopaedias – Lexikon des Mittelalters Online); und vgl. in Bezug auf die chronikalische Sagenüberlieferung den Artikel von Wolfgang BRÜCKNER, Chronikliteratur, in der in diesem Zusammenhang generell wichtigen Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, Bd. 3, begr. von Kurt Ranke, hg. von Rolf Wilhelm Brednich zus. mit Hermann Bausinger u.a. Berlin 1981, Sp. 2–15.
4 Vgl. zum Fassungsbegriff, der im Folgenden über größere sinnrelevante Abweichungen pragmatisch definiert ist, prinzipiell Peter STROHSCHNEIDER, Rezension zu: Joachim Bumke, Die vier Fassungen der ‚Nibelungenklage‘. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8). Berlin, New York 1996. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 127 (1998) S. 102–117.
5 Die in den Sammlungen seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert aufgezeichneten „Sagen“ sind daher, wie mit GRAF, Sage (wie Anm. 3), Sp. 1254f zu betonen ist, vor allem eines: „Zeugnisse aufklärerisch oder romantisch akzentuierter M[ittel]A[alter]-Rezeption“ in der Neuzeit. Vgl. die neuesten Sammlungen Mainzer Sagen, darunter auch zur Gründung der Stadt, z.B. von Wendelin DUDA, Die Sagen der Stadt Mainz (= Die Sagen vom Rhein 3). Stegen (bei Freiburg) 2009, hier S. 11ff, oder, unter Verbindung von unterhaltender Nacherzählung und historischer Wissensvermittlung, von Peter HAUPT, Sagen aus Rheinhessen – Archäologie und Geschichte. Worms 2013, hier S. 50ff. – Zu der mit dem Zeitalter des Humanismus einsetzenden (auch) gelehrten Tradierung der mittelalterlichen Ursprungserzählungen von Mainz siehe die im Folgenden jeweils an Ort und Stelle gegebenen Hinweise zu deren Überlieferung, darunter insbesondere auch den Fließtext mit Anm. 10ff, Anm. 34ff, Anm. 57f.
6 Vgl. den Beitrag von Joachim SCHNEIDER zur Dagobert-Sage in diesem Band, in dem eine Entstehung des Textes im Zusammenhang mit den Verfassungskrisen und Streitigkeiten zwischen Stadt und Erzbischof 1443/44 – die älteste Überlieferung setzt 1445 ein – erwogen wird (siehe den dortigen Fließtext nach Anm. 29 und 52); in jedem Fall spricht alles „zumindest“ für eine Überarbeitung zu dieser Zeit (ebd. im Fließtext vor Anm. 61). Vgl. auch Uta GOERLITZ, Facetten literarischen Lebens in Mainz zwischen 1250 und 1500. Mittelalterliche Erzählungen über das (ur)alte