Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein

Es war eine berühmte Stadt ... - Christian Klein


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vnder Jme.26 Und auch der weit über Mainz hinausreichende Ruhm dieser meister oder magi, der prinzipiell in beiden Fassungen erwähnt ist, wird in der Gheverdis-Fassung unterstrichen: Die Gründer von Mainz hätten in der fernen, ursprünglichen Heimat des Königs Trebeta vber mer wie auch andernorts verkůnden lassen: Wer da wolte leren Jn Naturlichen, Jn Astronomia, Auch in magica, der solte sich da hin gen meincz fůgen, da fůnde er sollich lere nach synem beger.27

      Mainz wurde der spätmittelalterlichen volkssprachigen Gründungserzählung der Stadt zufolge mithin in der Frühzeit Europas von einer Gruppe von teils rechtskundigen Magiern aus Trier errichtet, von gesellschaftlichen Funktionsträgern, die sich gemäß mittelalterlicher Magietheorie „religiöser Praktiken […] bzw. operativer Eingriffe“28 zur Aktivierung der Kräfte der Natur bedienten und deren Kenntnisse wie in der Gheverdis-Fassung näherhin im Sinne der Naturmetaphysik ausgedeutet werden konnten. Selbst im Orient mit seinem frühen Machtzentrum Babylon sollen die Mainzer magi der Gheverdis-Fassung zufolge Bekanntheit erlangt haben, und bei näherer Betrachtung sind bezeichnende strukturelle Parallelen des „Ursprungs der Stadt Mainz“ zur Gründungssage von Trier festzustellen. Der Trebeta-Sage zufolge verlässt der vom Begründer der ersten Weltmonarchie abstammende Königssohn Trebeta mit seinen Anhängern Babylon, um auf der Flucht vor Semiramis in Europa Neuland zu suchen; er siedelt sich in fruchtbarer Landschaft an der Mosel an und gründet dort die nach ihm benannte Stadt der Treverer, Trier. Analog dazu verlassen die aus Trier und damit aus der erst[en] stat […] in E<u>ropia nach der Sintflut stammenden, gelehrten Gründer von Mainz mit ihren Gefährten Trier und ziehen in die noch unbewohnten Lande aufwärts des Rheins; dort gründen sie die nach ihren Fähigkeiten benannte Stadt Mainz, lateinisch Maguntia, quasi Magicae […] scientia, wie eine explizite entsprechende etymologische Namendeutung lautete.29

      Wie Trier tritt damit auch Mainz bereits in paganer Vorzeit als eine Stadt ersten Ranges in Erscheinung, und durch ihr besonders hervorgehobenes, hohes Alter stellen beide Gründungen Rom weit in den Schatten. Angesichts des politischen Aufstrebens der Mainzer Bürgerschaft im Spätmittelalter erscheint es dabei als bezeichnend, wenn der Ursprung von Mainz hier – anders als die Anfänge von Trier in der aus dem Hochmittelalter datierenden Trebeta-Sage – nicht auf einen Monarchen, sondern auf eine im Kern zwölfköpfige Personengruppe aus der städtischen Oberschicht hergeleitet wird: Seit die patrizischen Geschlechter 1244 von Erzbischof Siegfried III. weitreichende städtische Freiheitsrechte erhalten und einen politisch unabhängigen Stadtrat gebildet hatten, war Mainz de facto Freie Stadt. Damit war ein Anspruch begründet, den es in den folgenden zwei Jahrhunderten bis zum Verlust der Stadtfreiheit (1462) zu bewahren, gegebenenfalls konkret nachzuweisen galt. Die Emanzipation vom bischöflichen Stadtherrn musste verteidigt werden, die Beziehungen zum Königtum waren jeweils im Einzelnen zu gestalten, „und ständig mußten mögliche Neuerungen, die dem eigenen Anspruch abträglich sein konnten, bekämpft werden“.30 Hinzu kamen Konflikte zwischen Geschlechtern und Zünften: 1332 zogen die Zünfte in den Rat ein – ein Ereignis, auf das die fiktive Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ an anderer Stelle unmittelbar anspielt –, 1444 schließlich wurden die Geschlechter völlig aus der städtischen Selbstverwaltungskörperschaft verdrängt.31 Der doppelte Charakter des spätmittelalterlichen Gemeinwesens „Mainz“ als Erzbischofsmetropole und freie Bürgerstadt, das durch ein „kompliziertes und dynamisches Miteinander, Nebeneinander und Gegeneinander“32 der politischen Kräfte mit ihren vielfältigen Verflechtungen nach innen wie nach außen gekennzeichnet war, ist deshalb bezeichnend. Vor diesem Hintergrund kann auch der Prestige- und Machtanspruch gesehen werden, der sich in dem nach ca. 1335 abgefassten volkssprachigen Text manifestiert, wenn die für ihre magischen Künste berühmten Gründer von Mainz ihr Wissen und ihre Fertigkeiten an lernbegierige Schüler aus Orient und Okzident weitergeben. Dadurch wird das Gewicht der Stadt nicht nur im urzeitlich-heidnischen Europa, sondern in der gesamten vorchristlichen Welt unterstrichen.

      Variabel erscheinen dabei im Vergleich von Windeck- und Gheverdis-Fassung der zeitliche Abstand der Gründung von Mainz einerseits zur vorangehenden Erbauung von Trier und andererseits zu der nachfolgenden von Rom und daneben in Grenzen auch die Abkunft des Heros eponymos der Mutterstadt von Mainz von Belus oder Ninus. Die zentralen Elemente sind hingegen konstant: Mainz wird von Trier aus gegründet, und die Gründer der Stadt sind weithin bekannte Gelehrte beziehungsweise Magier. Die für den heutigen Leser befremdliche, im Mittelalter aber einem verbreiteten, vorwissenschaftlichen etymologischen Verfahren entsprechende, erwähnte Herleitung des Namens von Mainz aus magiae scientia beziehungsweise magicae scientia bezieht sich dabei erkennbar nicht auf die volkssprachige Namensform Menz, sondern auf die lateinische, Maguntia.33 Sie verweist deshalb auf einen lateinischen Entstehungsrahmen zurück, was Rückschlüsse auf das politisch-soziale Bezugsfeld ermöglicht.

       III. Meister der Schwarzkunst auf der Flucht: eine lateinische Version vom Ursprung von Mainz in der Hagiographie um 1300

      Der zuletzt erwähnte Befund, mit dem zugleich die funktionale Differenz von lateinischem und volkssprachigem Diskurs angesprochen ist, weist auf eine ältere, lateinischklerikal geformte Schicht der Sage von der Gründung von Mainz durch Magier aus Trier hin, wie sie sich in der „Passio, inventio et translatio sanctorum Aurei et Justinae“ des sogenannten Sigehard von St. Alban aus dem späten 13. Jahrhundert findet.34 Diese Version der auf Magier aus Trier bezogenen Gründungsgeschichte erlangte besondere Verbreitung. Von Interesse ist sie aber auch, weil sie die Variabilität der Figurengestaltung der Erbauer von Mainz verdeutlicht und überdies gleichzeitig auf verschiedenen Ebenen auf das komplexe Verhältnis von mündlicher und schriftlicher Überlieferung und deren spezifischen Status verweist.

      Wie dargelegt, hatte die volkssprachige Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ unter Betonung des Alters der Stadt, durch das Mainz Rom übertrifft, den Charakter der Mainzer Magier als einer Gruppe hochrangiger Gelehrter aus Trierer Führungskreisen hervorgehoben, die von überallher Schüler anzogen. Der Gheverdis-Fassung zufolge waren es, modern ausgedrückt, naturwissenschaftlich bewanderte Astronomen. „Magie“ beinhaltete im Mittelalter neben einer magisch-naturphilosophischen, ihrem Wesen nach den mittelalterlichen Naturwissenschaften zuzurechnenden Komponente eine zauberisch-dämonologische. Dementsprechend stand weiße Magie neben schwarzer, wobei „die Grenzen zwischen beiden Bereichen […] stets umstritten [waren] und […] häufig ebenso subjektiven wie gesellschaftspolitisch umsetzbaren Ansprüchen“35 unterlagen. Die volkssprachige Version der Mainzer Ursprungssage zumal in der Gheverdis-Fassung gibt daher mit ihrer überaus positiven Zeichnung der Mainzer meyster beziehungsweise magici betont eine Deutungsperspektive vor, mit der sie sich von der lateinisch-klerikalen Überlieferung tendenziell abgrenzt. Diese nämlich hebt dezidiert und ausschließlich auf die dunklen Seiten der Magie ab.

      Der in der spätmittelalterlichen Legende der Mainzer Märtyrer Aureus und Justina überlieferten, lateinischen Version zufolge handelt es sich bei den „Heroes eponymoi“ von Mainz um eine Gruppe schändlicher (scelerati) und frevlerischer (flagitiosi) Schwarzkünstler, um Meister der magiae scientia und damit, wie eigens ausgeführt wird, der durch „Böswilligkeit“ gekennzeichneten malitiae scientia.36 Begründet wird ihr Auszug aus Trier durch das Motiv der Flucht: Aus Furcht, vermutlich vor Bestrafung für ihre Untaten, seien jene Magier von Trier aufgebrochen und hätten sich in überaus annehmlicher Lage37 an den Ufern des Rheins niedergelassen. Dazu erzähle man sich in Mainz seit alters folgende Geschichte:38 An derjenigen Stelle, an der Mainz ursprünglich erbaut worden sei, habe man einen außerordentlich großen, tief in die Erde eingelassenen Stein aufgefunden. Auf der Oberfläche seien die Worte Verte et inuenies – „Drehe ihn herum und du kannst etwas finden“ – eingemeißelt gewesen. Dadurch neugierig geworden, habe man den Stein mit viel Mühe ausgegraben, in der Hoffnung, darunter einen Schatz zu finden. Als man den Stein anschließend herumgedreht habe, sei man jedoch auf nichts anderes gestoßen als auf eine weitere Inschrift auf der Unterseite des Steines: Maguntia ab antiquo nequam. Diese Worte konnten wegen des indeklinablen nequam unterschiedlich ausgedeutet werden. Entweder man bezog nequam auf Mainz, das auf diese Weise als seit alters „listenreiche Stadt“ charakterisiert wurde.


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