Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein
verheißt. Da ihn seine Gattin nicht begleitet hat, lässt sich Tyrus durch seine Diener eine Frau zuführen, Pila, die Tochter des Müllers Atus, mit der er einen Sohn zeugt. Die Mutter gibt dem Kind den Namen Pilatus. Nach drei Jahren wird der Knabe an den Hof seines Vaters gebracht. Herangewachsen, tötet er aus Neid seinen Halbbruder, der ihm als legitimer Sohn des Königs in allen ritterlichen Wettkämpfen überlegen war (Abb. 1). Zur Strafe wird Pilatus von seinem Vater als Geisel nach Rom geschickt. Dort begeht er einen zweiten Mord: Wiederum aus Neid tötet er seine Mitgeisel Paginus, den Sohn des französischen Königs. Der Ermordete hatte Pilatus an höfischem Anstand und Ehre, moribus et honestate (Z. 37)7, weit übertroffen. Die Römer beschließen daraufhin, den Mörder auf die entlegene Insel Pontus zu entsenden, wo er entweder aufgrund seiner Bosheit die wilden und aufrührerischen Einwohner der römischen Herrschaft unterwerfen oder als verdiente Strafe den Tod finden soll. Pilatus gelingt es in der Tat, die Pontier zu bezwingen; aufgrund dieser Leistung erhält er den Beinamen Poncius (Z. 50). König Herodes, der von Pilatus’ Taten gehört hat, holt ihn als Mitregenten nach Judäa, wird aber nach kurzer Zeit von ihm entmachtet. Erst Prozess und Verurteilung Jesu von Nazareth, an denen Pilatus Herodes teilnehmen lässt, bringen die Versöhnung zwischen den beiden Widersachern. Eine ausführliche Darstellung der als bekannt vorausgesetzten Passionsereignisse hält der Erzähler nicht für nötig. Dennoch bilden sie die geheime Mitte der Pilatusvita. Denn da er sich mit der Verurteilung Christi nach mittelalterlicher Auffassung gegen Gott entschieden hatte, konnte der Richter Pilatus zum Frevler und Gottesfeind schlechthin werden, dem man ein Leben voller Untaten und Verbrechen zuschrieb.
Abb. 1: Pilatus (mit Krone) tötet seinen Stiefbruder. Miniatur aus Jansen Enikels Weltchronik, um 1420 (Universitätsbibliothek Heidelberg, Cod. Pal. germ. 336, fol. 163r).
Der zweite Teil der Legende, die Geschichte der göttlichen Vergeltung, verbindet die aus der älteren Tradition bekannten beiden Handlungsstränge um Krankheit und Heilung des Tiberius und die Zerstörung Jerusalems. Zunächst tritt Kaiser Vespasian auf, der später gemeinsam mit seinem Sohn Titus den Feldzug gegen die Juden leiten wird. Als Unterkönig des Tiberius residiert der an Wespen (vespes) in der Nase leidende Vespesianus in Galizien. Zu ihm gelangt durch Schiffbruch ein Bote des Pilatus, der im Auftrag seines Herrn das Urteil gegen Jesus in Rom rechtfertigen soll. Der Erzähler variiert hier die Überlieferung von einem Brief des Pilatus an den Kaiser: Durch die Erzählung des Boten zum Glauben an Christus bekehrt, wird Vespasian gesund und schwört Rache für den Tod seines Heilands. Dann erst setzt die Tiberius-Veronika-Handlung ein. Der ebenfalls schwerkranke Kaiser lässt nach dem berühmten Wunderarzt Jesus suchen. Sein nach Jerusalem entsandter Bote trifft dort auf die Besitzerin des Christusbildes. Seine Unterredung mit ihr enthält zum ersten Mal in der Stoffgeschichte die Deutung des Bildes als Gesichtsabdruck Christi in einem Tuch (vgl. Z. 143–151), ein Hinweis auf die wachsende Verehrung der Schweißtuch-Reliquie, die seit der Mitte des 12. Jahrhunderts in Rom bezeugt ist.8
Gemeinsam mit dem Boten reist Veronika nach Rom, wo Tiberius beim Anblick des Bildes gesund wird. Pilatus, der als Gefangener in die Hauptstadt gebracht wurde, harrt in einem Kerker der Entscheidung über sein Schicksal. Zusammen mit Fürsten und Volk berät der Kaiser darüber, was mit ihm zu geschehen habe. Vespasianus, der zur Vorbereitung des Krieges gegen die Juden nach Rom gekommen ist, verlangt als Strafe den schändlichsten Tod. Pilatus kommt dem zuvor, indem er sich mit seinem Messer die Kehle durchschneidet. Seine Leiche wird in den Tiber geworfen, doch zwingen dämonische Erscheinungen und Unwetter dazu, sie wieder hervorzuholen. Bei Vienne wird sie in die Rhône versenkt, aber auch dort zeigen sich böse Geister. Erneut wird der Leichnam gehoben, nach Lausanne überführt und schließlich in einen unreinen Alpensee am Septimus mons (Z. 198) gebracht, in dem, wie es heißt, die Dämonen usque in eternum (Z. 197) ihr Unwesen treiben. Die Schilderung der Zerstörung Jerusalems durch Vespasian und Titus folgt erst nach einem Einschub, in dem die Untaten und der Selbstmord des bösen Kaisers Nero dargestellt werden.
Auf den ersten Blick ist deutlich, dass das Geschichtsbild dieser Erzählung mit dem heutigen Verständnis historischer Prozesse unvereinbar ist. Dennoch glaubten manche Forscher, die legendenhafte Abstammung des Pilatus spiegle genauere Kenntnisse über die römische Vergangenheit von Mainz wider. So hat der Germanist Hans Ferdinand Maßmann im 19. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass in Mainz die XXII. Legion gelegen habe, jene Legion also, die während der Zerstörung Jerusalems in Judäa stationiert war. Dies, so vermutet Maßmann, mag auf die örtliche Haftung der Sage Einfluss genommen haben.9 Wer so fragt, verkennt allerdings die Absicht, die der Erzähler der „Historia apocrypha“ verfolgt. Ihm geht es nicht um lokalhistorische Details, sondern um das große Ganze, um eine Deutung der Welt- und Heilsgeschichte. Um ihn zu verstehen, muss man sich zunächst das Bild der Welt vergegenwärtigen, in der seine Erzählung spielt und die sie zu einem großen Teil auch durchmisst.
Dargestellt ist dieses Bild auf den Weltkarten des Mittelalters, auf denen auch Mainz verzeichnet sein kann. Auf der berühmten Wandkarte aus dem Kloster Ebstorf (Abb. 2) ist die Welt eine große Kugel, die nach Osten ausgerichtet ist.10 Ganz oben, also ganz im Osten, liegt das Paradies: Der Osten ist daher die Region des Heils. Mainz dagegen ist fast diametral gegenüber, in maximaler Distanz links unten im fast äußersten Westen zu finden (Abb. 3). Den Ursprung des Gottesmörders Pilatus hier zu suchen, ist angemessen, denn es handelt sich um eine Zone des Unheils und der Gottferne. Adam hatte nach seiner Vertreibung aus dem Paradies einer alten Lehre zufolge im Westen gewohnt, und mit der Kainstat des Brudermords beginnt auch Pilatus seine Laufbahn symbolisch im Westen. Gleichwohl wird auch diese Region von Gottes Heilszusage nicht ausgenommen: Durch die Überführung der Schweißtuchreliquie Veronikas gelangt das Heil nach Rom, das heidnische Weltreich nimmt den Glauben an und öffnet den Westen für jene Kraft, die ihn von der Herrschaft des Bösen – der eigentlichen Krankheit – befreit.11 Dies ist die geschichtliche Mission des Römischen Reiches, das deshalb nach mittelalterlicher Vorstellung bis zum Ende der Welt fortdauern würde.
Darum kann der Erzähler in der „Historia apocrypha“ das Imperium der Antike mit dem Kaiserreich des Mittelalters in eins sehen. Denn er versteht die Geschichte nicht als Veränderung in der Zeit, sondern als geschlossenes Ganzes, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen versammelt sind. In diesem „Zeitenraum“12 voller bedeutsamer Spiegelungen und Verweise stehen auch Beginn und Ende des Pilatuslebens in einem geographischen Entsprechungsverhältnis: Wie Geburt und Kindheit mit den deutschen Städten Bamberg und Mainz verbunden sind, berührt der Weg der Leiche Vienne und Lausanne, bevor sie in einem Alpensee versenkt wird. Gibt es irgendeinen Zusammenhang in dieser Topographie des Unheils? In der territorialen Ordnung des Hochmittelalters schon: Zunächst waren alle vier Städte Bischofssitze. Vienne und Lausanne lagen im Königreich Burgund, das vom Hochrhein bis zur Provence reichte und seit dem 11. Jahrhundert Glied des Imperiums war. Damit zeichnet sich die Trias der Reiche Italien, Deutschland und Burgund, auf denen die Kaisermacht beruhte, als Schauplatz des Geschehens ab. In strenger Symmetrie entsprechen den beiden deutschen Bischofssitzen zwei burgundische. Doch nur zwei dieser Stätten hatten eine eigene Pilatustradition: Seit der Weltchronik des Erzbischofs Ado von Vienne galt die alte römische Provinzhauptstadt der „Gallia Viennensis“ als Verbannungs- und Sterbeort des abgesetzten Statthalters. Bamberg hatte zwar selbst keine Pilatusstätte, aber im benachbarten Forchheim gab es einen „Hof des Pilatus“, wie verschiedene Nachrichten belegen. Als gleichwertiges Pendant zu Vienne konnte Bamberg allerdings schwerlich in Betracht kommen. Denn der Erzbischof von Vienne leitete gleich mehrere Kirchenprovinzen und führte deshalb den Ehrentitel eines „Primas der Primasse“ oder „Primas von Gallien“.13 Diese herausragende Vorrangstellung lenkt den Blick auf Mainz, dessen Metropolit in Deutschland ebenfalls den Primastitel beanspruchte, obwohl diese Würde eines „Primas Germaniae“ kirchenrechtlich nie fixiert wurde. Vermutlich ist Mainz also als Pendant zu Vienne in die Legende gelangt, weil die beiden Städte als die ranghöchsten ihrer Reiche angesehen wurden.
Abb. 2: Ebstorfer Weltkarte, ganz oben neben Christuskopf das Irdische Paradies, unten links in Markierung Mainz, um 1300 (Kloster