Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein

Es war eine berühmte Stadt ... - Christian Klein


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vor dem Tabu des Brudermordes nicht halt gemacht wird, ist kennzeichnend für das aggressive Potential einer nur oberflächlich kultivierten Kriegermentalität. Der Erzähler motiviert die Tat mit dem unmut des Angegriffenen, als eine in der Hitze des Gefechts begangene Affekthandlung, die ihrem Vollbringer nicht als persönliche Schuld anzurechnen ist. Hier herrscht tatsächlich die ungezügelte Gewalt des Weltstaates, die die lateinische Legende so vehement angeprangert hatte.

      In der Folgezeit fand diese höfisch-ritterliche Bearbeitung des Pilatusstoffes freilich keine Nachfolger mehr. In den Vordergrund traten nun Darstellungsformen, die an ein stadtbürgerliches Publikum gerichtet und mehr an sachorientierter Informationsvermittlung interessiert waren als an dichterischer Ausgestaltung. So haben etwa die im Spätmittelalter weit verbreiteten Welt- und Regionalchroniken das Pilatusleben immer wieder behandelt. Mainz wird dabei nicht immer genannt, da es schon Jacobus de Voragine aus seiner gerafften Wiedergabe der Legende getilgt hatte. Auch die ausführliche Version in der älteren, noch gereimten Weltchronik des Wiener Patriziers Jansen Enikel erwähnt Mainz nicht. Anders eine niederdeutsche Fassung der Pilatuslegende19, die ein Kaplan Johannes Vick – ausweislich des Kolophons – in eine 1434 im Schleswigschen Ruhekloster angefertigte Handschrift der Sächsischen Weltchronik einfügte. In ihrem Kernbestand hatte dieses in Prosa verfasste sehr umfangreiche Chronikwerk in sächsischer, d.h. niederdeutscher Sprache das Pilatusleben noch nicht enthalten. Die eingefügte Version stützt sich stärker auf die Tradition der französischen Pilatusstätten, indem sie den Vater als Herrn über Lyon und to Viannen (Vienne; S. 147, 2) einführt. Nur die Geburt selbst wird nach Mainz, in dat biscodum to Mense (ebd., 3) verlegt. Offenbar versucht der Redaktor, unterschiedliche Angaben seiner Quellen20 zu harmonisieren, indem er Abstammung und Geburt auf getrennte Orte verteilt. Er hält die Geschichte für wahr und will sie zuverlässig wiedergeben.

      In dieses Umfeld gehört auch Johannes Rothe, dessen thüringische Weltchronik allerdings schon wesentlich deutlicher die sich wandelnden Rezeptionsinteressen erkennen lässt. Noch immer gelten die alten universalen Deutungsmuster, aber sie allein vermögen ein solches historiographisches Großunternehmen nicht mehr zu rechtfertigen. Die Aufmerksamkeit richtet sich immer stärker auf das eigene regionale Umfeld, über dessen Vergangenheit und Ursprung der Geschichtsschreiber Auskunft geben will. Rothe verarbeitet die Pilatuslegende zweimal, neben der Weltchronik, die überwiegend in Prosa verfasst ist, auch in einer gereimten Passionsdichtung. Natürlich nutzt er für seine eingangs zitierte Version keine neuen Quellen: Seine Quelle ist die Sprache, genauer: die Eigennamen und ihre Deutungen. Dabei fußt er ganz auf der voraus liegenden lateinischen Tradition: Er schließt sich bei der Abstammung des Pilatus der Version an, die den Großvater ausscheidet und bereits Pilatus’ Vater den Namen Atus tragen lässt. Der zweite Name, der gedeutet wird, ist der von Mainz, ebenfalls wie im lateinischen Epos als eine Kombination zweier Gewässernamen. Rothe braucht eigentlich nur diese beiden etymologischen Motive zu verbinden, um daraus die Stadtgründungssage zu entfalten. Durch eine kleine graphische Varianz lässt er den König Atus der Pilatusvita zur Sagengestalt Artus werden: Eyn konigk was an dem Reyne gesessen der hiess Athus, den das gemeyne volk noch nennet konigk Arthus. Solche bedeutenden Stifterpersönlichkeiten zu finden – oder auch zu erfinden –, gehörte zur „wohlverstandenen Handwerkskunst in Chroniken und Legenden“ (Uwe Ruberg).21 Rothe befriedigt damit ein Bildungsinteresse seines städtischen Publikums, für das Mainz eine wichtige Bezugsgröße darstellte. Denn der Großteil Thüringens einschließlich der Residenzstadt Eisenach gehörte damals zum geistlichen Sprengel des Mainzer Erzstuhls, und auch Rothe war mithin Mainzer Diözesanpriester. Nach der Darstellung, die er in seiner Weltchronik überliefert, führten die Thüringer Landgrafen, denen er sein Werk widmet, ihre Herrschaft außerdem auf eine Übertragung durch den Erzbischof von Mainz zurück, so dass die Stadt auch für die Legitimation der weltlichen Ordnung relevant war.

      Von einer Verbindung zwischen Pilatusgeburt und Mainzer Stadtgründungssage wusste man um 1400 auch andernorts. In einem Vers aus einer Mansfelder Chronik heißt es:

       Regula non ficta

       Nequam Moguntia dicta

      Germen Pilati.22

      Zu Deutsch in etwa: „Die Regel ist nicht erfunden: Mainz ist böse, ein Sproß des Pilatus.“ Hier ist der Impuls, der mit der Einführung der Mainz-Etymologie in die Pilatusvita begann, gewissermaßen an sein logisches Ende gebracht und Pilatus selbst zum Stadtgründer oder Stammvater der Mainzer geworden: Die Pilatuslegende ist gleichzeitig Stadtgründungssage von Mainz. Man brauchte sie nicht mehr, um den Lauf der Weltgeschichte zu deuten, sondern den schlechten Charakter der Mainzer zu erklären.

       III. Lüge

      Abb. 4: Zeitachse: Pilatus (ganz unten) in der Abfolge der Regenten Judäas. Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik, Blatt XCVI (Martinus-Bibliothek Mainz, Inc 12).

      Ein Menschenalter später ist dieser Prozess noch weiter fortgeschritten: Der Autor der „Cronica van der hilliger Stat van Coellen“ (nach dem Drucker auch „Koelhoffsche Chronik“24 genannt) verwirft 1499 gleich den gesamten Erzählkomplex um die Bestrafung der Gottesmörder, angefangen bei der Veronikalegende. Diese sei ebenso logenafftich wie die Geschichte van Judas dem verreder wie he… sy geboren gewest van Mentz. […] Des gelichen van Pylatus leven, wie he geboren si van eim konink ind eins mullers dochter ind wie he eins koninks son van Vrankrich erslagen have, dat doch offenbairlichen is widder alle historienschrivere. Want up die zit was noch gein konink van Vrankrich, die lange dairnae in Gallien sin komen […]. Solche Geschichten, so bekräftigt der Autor, syn doch imgronde der warheitgelogen (Blatt Liiii recto).

      Die Herkunft aus Mainz ist hier möglicherweise von Pilatus auf Judas übertragen, denn beide Legenden wurden oft zusammen überliefert. Dieser anonyme Chronist vergleicht, bewertet und kritisiert seine Quellen und erweist sich so als Vorläufer der modernen Historiker. Er trägt eine lineare Zeitachse in die Vergangenheit ein und gewinnt so einen Maßstab, um Glaubwürdiges von Unglaubwürdigem zu trennen. Hier ist die Lebensgeschichte des Pilatus nicht mehr wahr, kann es nicht mehr sein – denn sie hat ihre Welt verloren. Römer und Mainzer zugleich: Das konnte Pontius Pilatus in der neuen Welt nicht mehr sein.

      1 Johannes ROTHE, Dürin gische Chronik, hg. von Rochus von Liliencron (= Thüringische Geschichtsquellen 3). Jena 1859, Kap. 76, S. 64. Auch als Digitalisat der Universitätsbibliothek Jena zugänglich unter der URL http://archive.thulb.uni-jena.de/hisbest/receive/HisBest_cbu_00020713.

      2 Zum historischen Pilatus etwa Karl JAROŠ, In Sachen Pontius Pilatus. Mainz 2002; Alexander DEMANDT, Hände in Unschuld. Pontius Pilatus in der Geschichte. Köln 1999.

      3 Vgl. Volker HONEMANN, Johannes Rothe


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