Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein
Rechtsverhältnis und die Pflichten der Stadt, Dagobert habe nach dem Wiederaufbau die Stadt „um seiner Seligkeit willen als ein ‚Seelgeräthe‘ dem Erzbischof übergeben“. Daher seien die Bürger dem Bischof seit jeher dienst- und steuerpflichtig gewesen. Erst später hätten die Mainzer in frevelhafter Weise Erzbischof Dietrichs Vorgängern Privilegien abgerungen und erwiesen sich nun ihm gegenüber als ausgesprochen ungehorsam. Eine Dagobert-Urkunde oder wenigstens die Bestätigung einer solchen durch Karl IV. legte die erzbischöfliche Seite jedoch nicht vor. Im Dezember 1443 antworteten Bürgermeister und Rat, seit langem hätten sie die Freiheitsrechte der Stadt ohne Widerspruch der Erzbischöfe nutzen können – mit Ausnahme allein etlicher Gewohnheiten hinsichtlich der Mainzer Gerichte und der städtischen Ämter. In einer weiteren Stellungnahme beharrten Bürgermeister und Rat darauf, dass Mainz seit vielen hundert Jahren, ja sogar schon vor König Dagoberts Zeiten57 eine „gefreite, freie Stadt“ gewesen sei. Sie wollten Dietrich von Erbach daher nicht als Haupt und Obrigkeit, sondern lediglich als Mainzer Erzbischof anerkennen58.
Beide Seiten nutzten in dieser Auseinandersetzung Hinweise auf die Dagobert-Legende als historisches Argument in ihrem aktuellen Rechtsstreit um den Status der Stadt – die erzstiftische Seite allerdings deutlicher als die Stadt, die ihre Freiheit ausdrücklich noch vor die Zeit des Wiederaufbaus durch Dagobert zurückdatierte. Bei der Definition jener wenigen, eng begrenzten Rechte, die Dagobert oder ein Nachfolger an die Erzbischöfe weitergegeben habe, stimmen die einschlägigen Abschnitte der Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ in hohem Maße mit der Argumentation der Stadt im damaligen Rechtsstreit überein. Denn dass der Erzbischof über die Mainzer Gerichte verfügen konnte, gestanden auch die Verfasser der städtischen Stellungnahme von 1443 jenem ausdrücklich zu.59 Im Übrigen sei die Stadt jedoch dem Erzbischof in keiner Weise verbunden oder unterworfen. Der Hinweis der städtischen Seite auf die Freiheit der Stadt auch von königlicher Herrschaft stimmt ebenfalls mit den entsprechenden Behauptungen der Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ überein, wo betont wurde, Oppenheim, Bingen und der Rheingau hätten dem Reich unterstanden, auf seine Rechte in der Stadt Mainz aber habe schon Dagobert im Wesentlichen verzichtet. Diese große Nähe des Textes zur Argumentation der Stadt im Rechtsstreit mit dem Erzbischof in den Jahren 1443/44, aber auch die Übereinstimmung bei der oben schon diskutierten Ratswahlordnung in diesem Zeitraum60 sowie die Tatsache, dass die Überlieferung der handschriftlichen Zeugnisse gerade zu diesem Zeitpunkt Mitte der 1440er Jahre einsetzt: Alles dies spricht dafür, dass der Bericht damals entweder überhaupt erst entstanden oder zumindest in einer Überarbeitung auf die aktuellen Bedürfnisse der städtischen Partei hin angepasst worden ist.61
Mit Sicherheit war es auch der Streit um die Mainzer Rechte und Freiheiten in jenen Jahren, der den Rat veranlasste, die königlichen Rechte und Privilegien der Stadt zweimal, im Jahre 1442 und nochmals im Februar 1444, als sich der Rechtsstreit mit dem Erzbischof zuspitzte, zusammenstellen und notariell beglaubigen zu lassen.62 Über Friedrich II. und damit über das 13. Jahrhundert allerdings reichten die städtischen Urkunden nicht zurück, über die man damals verfügte. Das Resümee der kleinen Chronik hob den Stauferkaiser daher nicht zufällig als Wohltäter der Stadt hervor. Aber auch die erzstiftische Verwaltung konnte keine Urkunde Dagoberts vorlegen, sondern lediglich einen vagen, höchst spekulativen Registereintrag.63 Demgegenüber beschwor auch der Text der prostädtischen Chronik am Ende noch einmal den Glauben an die Privilegierung der Stadt bereits durch König Dagobert: Kaiser Friedrich II. habe die Freiheiten Dagoberts bestätigt, die von vielen späteren Kaisern erneut bestätigt worden seien – und so mussten doch alle diese Freiheiten letztlich aus einer Zeit stammen, in der noch kein Bischof zu Mainz irgendwelche Rechte hatte, wie der Chronist resümierte.
IV. Dekonstruktion und Weiterleben der Dagobert-Legende seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts
Die kaiserlichen Mainzer Privilegien waren nach der Unterwerfung unter den Erzbischof im Jahre 1462 kein Thema der Auseinandersetzung mehr, alle unmittelbaren Kontakte der Stadt zum Reich brachen damals ab.64 Die Geschichte von Dagobert als dem Wiederbegründer der Stadt und von seiner Mainzer Königsburg, wie sie bereits Gozwin im 11. Jahrhundert formuliert hatte, hielten aber auch die Gelehrten und Historiker des Mainzer Erzstifts wie Nicolaus Serarius oder Georg Christian Joannis im 17. und 18. Jahrhundert selbstverständlich weiterhin für wahr.65 Anlass für einen neuen Aufschwung der Legende im populären Bewusstsein der Mainzer war dann die französische Herrschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Denn mit dem Frankenkönig Dagobert konnte man eine enge Verbindung der Metropole am Rhein mit der französischen Nation und ihren nationalen Mythen konstruieren. So schweben über einer Mainzer Stadtansicht von 1807/09, die Teil des großformatigen sogenannten Brühlschen Plans war, drei mit Girlanden verbundene Medaillons, die von Engeln gehalten werden (Abb. 2). Neben zwei Mainzer Bürgern, Johannes Gutenberg und Walpod, dem Gründer des Rheinischen Städtebundes von 1254, sowie neben dem aktuellen Herrscher Napoleon huldigte das dritte Medaillon Dagobert I., dem König der Franken und Restaurator der Stadt Mainz.66
Noch der renommierte Historiker Karl Anton Schaab hat die historische Überlieferung von Dagobert als Bewohner einer Mainzer Königsburg und als Gründungsfigur der Stadt geglaubt und in seiner einflussreichen Geschichte der Stadt Mainz von 1840 ausgebreitet.67 Noch hielt Schaab auch die beiden Urkunden für das Bistum Worms und St. Maximin in Trier mit den angeblichen Belegen einer Mainzer Königspfalz für echt.68 Erst die Publikation der ersten Ausgabe der Merowingerurkunden durch die Monumenta Germaniae Historica im Jahr 187269 brachte das Gebäude ins Wanken. Aber könnte nicht doch eine Pfalz vorhanden gewesen sein, wenn Dagobert seinen Weg 630/31 in das Wendenland gerade über Mainz nahm?70 So jedenfalls suchte noch Franz Falk 1873 eine solche Königspfalz für Mainz zu Zeiten Dagoberts zu retten, auch wenn die betreffenden beiden Urkunden von 628 und 634 seinen Worten zufolge mittlerweile „stark beanstandet“ worden seien.71
Abb. 2: Ehrentafel für König Dagobert I. als dem Wiederbegründer der Stadt Mainz im Stadtplan von Heinrich Brühl aus der Zeit um 1807/09 (Stadtarchiv Mainz, BPSP 392 D).
Einige Jahre später sprach sich der Herausgeber der Mainzer Chroniken, Karl Hegel, über die eingangs dieses Beitrags zitierte Geschichte so aus: „Ob und in wie weit der durchaus fabelhafte Gehalt derselben aus freier Dichtung entsprungen ist oder auf älterer Überlieferung beruht, wüßte ich nicht zu sagen […] Wie weit im übrigen die historische Sage von der Erbauung von Mainz durch K. Dagobert im Mittelalter zurückreicht, will ich hier nicht untersuchen.“72 In der wissenschaftlichen Terminologie der Zeit war mit den Begriffen „fabelhaft“, „freie Dichtung“, „ältere Überlieferung“ und „historische Sage“ das Urteil gesprochen. Die Geschichte von Dagobert als dem Erbauer der Stadt Mainz hatte seit der Entwicklung der modernen Methoden der wissenschaftlichen Textkritik im 19. Jahrhundert nicht nur ihre sachliche Glaubwürdigkeit, sondern auch ihre Relevanz eingebüßt – und der Historiker Hegel gedachte nicht, sich damit näher zu befassen.
Wenn Hegel die Geschichte vom „Ursprung der Stadt Mainz“ als Ganzes abqualifizierte, übersah er dabei freilich, wie aufschlussreich dieser Entwurf einer volkssprachlich abgefassten Mainzer Frühgeschichte im Ganzen, aber gerade auch das Dagobert-Motiv mitsamt den daraus abgeleiteten rechts- und verfassungsrelevanten Schlussfolgerungen für das Selbstverständnis und die historische Selbstvergewisserung73 der Mainzer Bürgerschaft des 15. Jahrhunderts war – in einer ökonomischen und sozialen Krisenzeit, als der weitere Verlauf der Mainzer Geschichte auf des Messers Schneide stand.
Darüber hinaus reflektiert der Bericht auch über den Einzelfall hinaus verbreitete Erzählmotive der Stadtgeschichtsschreibung. Dazu gehören Vorstellungen von einer latenten Bedrohung, die von einer nahe gelegenen Burg und ihren Bewohnern ausging, gegen die man sich als Stadtbürger am besten mit der Errichtung einer eigenen Mauer und der Zerstörung der Burg wehrte, von der die Bedrohung ausging.74 Ein anderes Erzählmotiv ist der schon bei Gozwin angelegte Plot „Von der völligen Zerstörung zu einem Wiederaufstieg, der zu