Es war eine berühmte Stadt .... Christian Klein

Es war eine berühmte Stadt ... - Christian Klein


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bevor irgendein Bischof zu Mainz Rechte hatte.

      Aus der Erzählung vom „Ursprung der Stadt Mainz“ in der sog. Windeck-Fassung, nach 1443

       I. Der Mainzer Rat im Spiegel der Dagobert-Legende

      Die eingangs wiedergegebene Erzählung entstammt der kurzen Chronik „Ursprung der Stadt Mainz“19, die in diesem Buch auch im Kapitel zu den Mainzer Ursprungssagen genutzt wird20. Der Text berichtet hier von einer zweiten Gründung der Stadt Mainz durch den fränkischen König Dagobert I. (631–638/39) aus dem Geschlecht der Merowinger. Davor war die erste angeblich schon seit ältesten Zeiten bestehende Stadt, der Chronik zufolge21, durch die Hunnen unter König Attila völlig zerstört worden. Die Bezeichnung der Königsburg als wickhuß verweist auf ein festes Steinhaus als Teil einer größeren Befestigung22, die oberhalb der Stadt gelegen habe. Die Umschreibung der angeblich damals neu erstandenen Stadt mit Hilfe von vier im Spätmittelalter markanten Orientierungspunkten an den vier äußeren Ecken des damals bestehenden städtischen Mauerrings23 sollte offenbar verdeutlichen, dass die „Stadt Dagoberts“ von Anfang an mit der Stadt, wie sie der Chronist und seine Leser kannten, identisch war24. Die Verbindungslinie von einer durch den Autor sogenannten Steinernen Brücke (über den Zaybach) hin zum Gautor sollte offensichtlich am Fuße des Kästrich verlaufen. Ausgeschlossen blieb der Vorort Selenhofen, der erst im 13. Jahrhundert in den Mauerring einbezogen worden war. Seitdem ersetzte das Neutor, das später auch als Holztor bezeichnet wurde, die Heimenschmiedspforte als wichtiger Zugang zur Stadt, so dass deren Hervorhebung durch den Text für den Zustand vor der Stadterweiterung folgerichtig ist. Da aber die Heimenschmiede auch danach noch als Orientierungspunkt genutzt wurde,25 ist ihre Heranziehung an dieser Stelle durch den Chronisten andererseits auch nicht überraschend.

      In der Überlieferung wird die Chronik vom „Ursprung der Stadt Mainz“ um 1440 greifbar. Ein Exemplar könnte sich damals im Besitz des Mainzer Stadtpolitikers und Chronisten Eberhard Windeck (gest. 1440/41) befunden haben. Windeck, Verfasser einer Königs- und Reichschronik über die Regierungszeit Kaiser Sigmunds (1368– 1437)26, war aber sicher nicht der Autor dieses Textes, da er hierfür lateinischsprachige Überlieferung selbständig hätte bearbeiten und übersetzen müssen, was seine Möglichkeiten überstiegen hätte und auch nicht seiner Arbeitsweise entsprach. Nach Windecks Tod 1440/41 ging der Text vom „Ursprung der Stadt Mainz“ jedenfalls in die illustrierte Überarbeitung und Fortsetzung seiner Chronik ein, die 1443 außerhalb von Mainz, vielleicht in Hagenau im Elsass, entstanden ist. Deren älteste erhaltene Exemplare stammen von etwa 1445.27 Dass der Text über die frühe Mainzer Geschichte aber auch abseits der Windeck-Chronik am Entstehungsort im Spätmittelalter greifbar war, beweisen mehrere Überlieferungsexemplare, die von der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert stammen, sowie der Rückgriff darauf durch den Mainzer Benediktinermönch Hermannus Piscator, der sie ins Lateinische übersetzte und für seine große Mainzer Chronik, die zwischen 1520 und 1526 entstand, verwendete.28

      Die zweite Gründung der Stadt Mainz nach einer tiefen Krise verbindet der Erzähler der Chronik eng mit dem Rechtsgefüge zwischen König, Bischof und Stadt in Mainz, aber auch mit der Entstehung des städtischen Rates und mit der Machtverteilung in demselben. Unverkennbar spiegeln sich politische Probleme und soziale Konstellationen zum Entstehungszeitpunkt der Chronik in deren Konstruktion der frühen Stadtgeschichte wider. Dabei erhebt sich insbesondere die Frage, wer mit den im Text genannten „Rittern“ gemeint war bzw. welche Gruppen im spätmittelalterlichen Mainz mit diesen identifiziert wurden.

      Offenbar stellte sich der Autor adlige Burgmannen des Königs als die Keimzelle des ersten städtischen Rates vor, was auch seiner Hauptthese entsprach, dass der Erzbischof zu Zeiten des Wiederaufbaus der Stadt noch keine Rolle im städtischen Machtgefüge spielte. Auf der Suche nach historischen Parallelen sieht man sich hier an den Rheinischen Städtebund von 1254-1257 erinnert, als Vertreter der Mainzer Bürgerschaft und anderer Städte erstmals eine eigenständige politische Rolle im Reich spielten und am Mainzer Erzbischof vorbei in unmittelbarer Verbindung mit dem Reichsoberhaupt, König Wilhelm von Holland, standen. Die Städte wurden in den Bundesgremien, wie schon in der Keimzelle des Bündnisses, dem Zweierbündnis zwischen Mainz und Worms 1254, durch je zwei „Ritter“ und zwei „Bürger“ aus jeder Stadt vertreten. Mainzer Führungsgestalten während des Rheinischen Bundes wie Arnold, der Inhaber des Walpodenamtes, oder der Kämmerer Arnold zum Turm versahen zwar zentrale erzbischöfliche Ämter, lockerten aber damals ihre Beziehungen zu ihrem angestammten Herrn und akzentuierten, wie besonders bei Arnold zum Turm zu sehen, ihre Ebenbürtigkeit mit der Ritterschaft auf dem Lande.29

      Tatsächlich allerdings bestanden die Vorformen des städtischen Rates in Mainz, wie sie erstmals im 13. Jahrhundert greifbar werden, nicht aus Gefolgsleuten des Königs, sondern aus Räten und Vasallen des Erzbischofs sowie aus Amtsträgern desselben, die mit Mainzer Angelegenheiten befasst waren. Im großen Privileg Erzbischof Siegfrieds III. von Eppstein von 1244 wurde den Mainzer Bürgern erstmals erlaubt, einen Rat aus 24 Mitgliedern zu wählen. Ausscheidende Räte sollten durch Nachwahl ersetzt werden. Seitdem bestand die Möglichkeit, dass auch weniger stark dem Erzbischof verbundene Kreise in den Rat gelangten. Neben den gewählten Räten saß jedoch noch bis 1332/33 weiterhin auch eine nicht genauer fassbare Zahl erzbischöflicher Beamter im Mainzer Rat.30

      Unabhängig von diesem Gegenüber von gewähltem Rat und delegierten Dienern des Erzbischofs ist allerdings zu beachten, dass grundsätzlich die gesamte städtische Führungsschicht des 13. Jahrhunderts, die den Rat besetzte und aus der großenteils die sogenannten Alten Geschlechter des 14. und 15. Jahrhunderts hervorgegangen sein dürften, mehr oder weniger enge Verbindungen zum Erzbischof unterhielt und weitgehend dessen Ministerialität entstammte.31 Erst nach der Verfassungskrise der Jahre 1332/33 gelangten durch Zuwahl bzw. Entsendung durch die Zünfte erstmals auch nicht den Geschlechtern angehörige Vertreter sowie Handwerker in den Rat.

      Abb. 1: König Dagobert übergibt die Stadt Mainz an die Ritter. Darstellung in der illustrierten und überarbeiteten Fassung der „Chronik von Kaiser Sigmund und seiner Zeit“ des Eberhard Windeck (Österreichische Nationalbibliothek Wien, Cod. 13975, fol. 450r).

      Überblickt man diese Entwicklung und kommt nun auf die Frage nach der historischen Zuordnung der im Chroniktext genannten Ritter der Zeit König Dagoberts zurück, so könnten mit diesen zunächst die Ministerialen bzw. ritterlichen Vasallen des Stadtherrn im engeren Sinne gemeint gewesen sein, wie sie noch im früheren 13. Jahrhundert auf Seiten des Erzbischofs auftraten und in der Mitte des Jahrhunderts im Rheinischen Bund erstmals eigenständiges Profil gewinnen. Wahrscheinlicher aber ist, dass der Text bereits auf den Dualismus zwischen Alten Geschlechtern und Gemeinde anspielt, der seit 1332/33 die innere Mainzer Geschichte bestimmte, zumal die Chronik mehrfach ausdrücklich auch von Handwerkervertretern spricht, die in Auseinandersetzung mit den Rittern Zugang zum Rat erlangt hätten. Dabei läuft die Identifikation der „Ritter und Rittergenossen“ mit der Mainzer Spitzenschicht des 13. Jahrhunderts oder den alten Geschlechtern vom Anfang des 14. Jahrhunderts, die damals auf ihre Alleinherrschaft im Rat verzichten mussten, wie oben schon ausgeführt auf das Gleiche hinaus.

      Der entscheidende Akzent des Chronik-Textes liegt hingegen darin, dass er die Herkunft der alten Führungsschicht in Mainz nicht in der Ministerialität des Erzbischofs, sondern in der des Königs verortete. Inwieweit dies wirklich dem Selbstbewusstsein der Mainzer Geschlechter im Spätmittelalter entsprach, ist allerdings ungewiss. Immerhin unterhielten Repräsentanten insbesondere aus dem Geschlecht der zum Jungen im 14. Jahrhundert enge Verbindungen zu Kaiser Karl IV.32, und deren Nachfahren ließen sich im Jahr 1430 von König Sigmund ihre freie und adelsgleiche Herkunft, geborne Wappensgenoße, und Rittermessige, und Hoffleutte, und Dinestleutte, in dem heiligen Romischen Riche zu sein, bestätigen.33

      Abgesehen von einer Aufwertung bzw. Umdeutung der alten Mainzer Geschlechter zu einer ursprünglich königsnahen Führungsschicht hatte die Erzählung aber auch den Zweck, das Recht der Gemeindevertreter zu legitimieren, im Mainzer Rat mitzuwirken, indem auch dieser Anspruch bis in die Zeiten der zweiten Gründung


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