"Chemin Neuf" in kirchenrechtlicher Sicht. Andreas Friedel
entstand, wie Autoren der Kommunität es selbst gern formulieren, an einem Kreuzungspunkt, an dem verschiedene zeitgeschichtliche und religiöse Strömungen zusammenflossen. Laurent Fabre, der nominelle Gründer der Gemeinschaft Chemin Neuf, wurde 1940 in Lyon geboren. Er trat in den Jesuitenorden ein und wurde für den Orden 1973 zum Priester geweiht. Fabre studierte pädagogische Psychologie am „Institut Supérieur de Formation à l’Animation“ (I.S.F.A.L.) und Theologie an der Theologischen Fakultät in Lyon-Fourvière.17 Während seines Studiums und noch vor seiner Priesterweihe im Jahr 1973 traf er in der Fakultät von Fourvière bzw. im Scholastikat der Jesuiten den amerikanischen Jesuiten Mike Cawdrey,18 der in seiner Religiosität durch die nordamerikanische Pfingstbewegung geprägt war. Die Gabe des Sprachengebetes, die Cawdrey praktizierte, zog Fabres besondere Aufmerksamkeit auf sich.19 Fabre schildert seine erste Begegnung mit der charismatischen Erweckungsbewegung, die er durch die Person Cawdreys kennenlernte, wie folgt:
„Im Jahr 1971 war ich Student an der theologischen Fakultät in Lyon-Fourvière. Ich bereitete mich darauf vor, Priester zu werden, und beendete meine Ausbildung als Jesuit (10 Jahre). Eines Tages waren einige von uns in der Kapelle; wir beteten als einer von uns, Mike, ein amerikanischer Jesuit, anfing mit lauter Stimme, auf kuriose Weise und in einer unverständlichen Sprache zu beten. Dieses kurze Erlebnis reichte aus, mich besorgt zu machen, und da ich zu dieser Zeit von meinen psychologischen Studien geprägt war, schloss ich daraus, dass Mike Hilfe benötigte. Einige Zeit später ging ich voll liebender Fürsorge und klopfte an seine Tür und bat ihn um Erläuterungen zu diesen Gebetsgruppen, die sich in den Vereinigten Staaten entwickelt hatten, und zu seiner Art zu beten etc. Ein langer Austausch regte mich an, weiter darüber nachzudenken. Von da an nahm ich mir mit einem anderen Jesuiten, Bertram Lepesant, die Zeit, Informationen über das zu sammeln, was die Presse die ‚charismatische Erneuerung‘ der Vereinigten Staaten nannte.“20
Fabre ließ sich zusammen mit seinem Mitbruder aus dem Jesuitenorden, Bertrand Lepesant, auf einen unverbindlichen Besuch und später auf die Teilnahme an einem charismatischen Gebetskreis ein, der im Haus der Lyoner Familie Pelletier stattfand.21 Pierre und Maryse Pelletier werden als Vorreiter der charismatischen Erneuerung in Lyon beschrieben.22 Cawdrey war an der Gestaltung dieses Gebetskreises maßgeblich beteiligt. Das zeigt sich darin, dass von „Cawdreys Gebetskreis“ die Rede ist und ihm die Patenrolle für drei charismatische Gebetskreise zugeschrieben wird. Cawdrey wirkte in der Zeit von Oktober 1971 bis Juni 1972 in Lyon. Die Teilnehmerzahl der charismatischen Gebetskreise wuchs in der Zeit auf 95 Personen an. Im Gebetskreis, der sich im Haus der Familie Pelletier traf, kam Fabre intensiver mit der charismatischen Glaubenspraxis in Berührung. Er bemerkt, er habe sich nur langsam und anfangs skeptisch auf diese Frömmigkeitsform einlassen können. Es sei ihm zu „amerikanisch“ gewesen.23 Außerdem war Fabre mehr durch die Ideen des politischen Katholizismus geprägt. Sein sozialkritisches Engagement in der katholischen Jugendbewegung „Jeunesse ouvrière chrétienne“ (J.O.C.)24 und seine politische Tätigkeit in der „Parti socialiste unifié (P.S.U.)“25 stehen für seine ursprüngliche Orientierung innerhalb des Spektrums der katholischen Kirche.26
1.2.2 Das Gebetswochenende und die Taufe im Heiligen Geist
Mike Cawdrey schlug seinem Jesuiten-Mitbruder Fabre vor, an einem Gebetswochenende teilzunehmen, das er in einem Haus außerhalb von Lyon abhalten wollte. Fabre bemerkt, ihm sei die Zusage nicht leicht gefallen, weil seine Skepsis zu dem Zeitpunkt noch überwog. Kurz vor der Abreise nach Hyères in der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur stießen zwei weitere Amerikaner dazu. Fabre erinnert sich, dass sie überraschend an der Tür des Jesuitenscholastikats in Lyon klingelten. Die Gäste kamen aus Taizé und trampten nach Jerusalem, beide Besucher waren Mitglieder der Episkopalkirche Amerikas,27 einer hatte jüdische Wurzeln. Beide wurden spontan eingeladen, an dem Gebetswochenende teilzunehmen.28 In der konfessionell gemischten und von der pfingstkirchlichen Glaubenspraxis geprägten Gruppe, die nach Hyères zum Gebetswochenende aufbrach, sieht Fabre die spätere CCN-Kommunität, an die zu dieser Stunde noch nicht zu denken war, im Kern vorgebildet.
An diesem Wochenende widerfuhr Laurent Fabre ein religiöses Schlüsselerlebnis – die Taufe im Heiligen Geist. Die kleine Gemeinschaft betete unter Handauflegung für ihn. Die Taufe im Heiligen Geist wird von Charismatikern als Initiationserlebnis betrachtet.29 Dieses Erlebnis änderte Fabres Ansichten bezüglich der charismatischen Spiritualität und stellte für ihn ein individuelles Bekehrungs- bzw. Erweckungserlebnis dar, eine Erfahrung, die sein Leben in neue Bahnen lenken sollte.30
Laurent Fabre schildert, er habe danach den Wunsch verspürt, die Pfingstgemeinden in ihrem Ursprungsland kennenzulernen. Deshalb trat er zusammen mit seinem Mitbruder Lepesant im Sommer 1973 eine Reise durch die USA an.31 Entlang der Westküste der USA besuchten sie Gebetsgruppen, pfingstkirchlich orientierte Pfarreien und charismatische Lebensgemeinschaften. Fabre fiel auf, welche Chancen die charismatische Erneuerung bot, ohne zu spezifizieren, worin er diese im Einzelnen sah.32 Nach der Rückkehr aus den USA organisierten Fabre und Lepesant ein Wochenende, bei dem sie über ihre Erfahrungen der USA-Reise berichteten.33 Fabre stellte bei der Gelegenheit seine Idee vor, eine Lebensgemeinschaft zu gründen.34
1.3 Weitere religiöse und zeitgeschichtliche Einflüsse
1.3.1 Die Einflüsse der 1968er-Bewegung
Die Begegnung mit der charismatischen Erneuerungsbewegung ist der Zündfunke, der den Impuls zur Gründung einer Lebensgemeinschaft gab. Mehrmals wird in Veröffentlichungen der Gedanke vorgebracht, die Kommunität sei an einem Kreuzungspunkt entstanden, an dem mehrere glückliche Fügungen zusammentrafen.35 Der Kontakt mit der nordamerikanisch-pfingstkirchlichen Erneuerung ereignete sich zu einer Zeit, als Frankreich und Europa durch die 1968er-Bewegung in Unruhe versetzt worden waren und die katholische Kirche mit der Rezeption des II. Vatikanischen Konzils eine Phase der Neuorientierung durchlief. Die 1968er-Bewegung und das Konzil werden von Laurent Fabre selbst als ein glücklicher Kairos bezeichnet, als der Punkt, an dem sich „Himmel und Erde berührten“.36 Beide Zeitströmungen wirkten mindestens als Katalysatoren, zum Teil auch als prägendes Moment bei der Geburt der Kommunität und der Ausformung ihres Charakters mit.
Mehrere Kommentatoren, die sich mit den GGB befassen, widmen der 1968er-Bewegung ein großes Maß an Aufmerksamkeit, weil sie in dieser ideengeschichtlichen Strömung, eine nicht unerhebliche Wirkursache für das Aufkommen der neuen religiösen Gemeinschaften sehen.37 Die Suche nach „wahren und solidarischen Beziehungen“38 und nach der „integralen Befreiung der Menschen“39, der Protest gegen eine konsumorientierte Gesellschaft und eine bourgeoise Kultur bilden den Kontext für ein Suchen nach gesellschaftlichen und religiösen Alternativen. Die Kritik der 1968er-Strömung richtete sich teilweise auch gegen die Kirche, besonders wo sie als autoritär und als Stütze einer als verbürgerlicht und repressiv empfundenen Gesellschaft wahrgenommen wurde.40 Diese geistige Stimmungslage führte zu einer wechselseitigen Dynamisierung von religiösem und sozialem Protest, von Mystik und politischer Aktion.41 Unter der Oberfläche der 1968er-Rebellion meinten aufmerksame Beobachter eine religiöse bzw. eine pseudoreligiöse Bewegung zu erkennen, eine Art innerweltlichen Messianismus.42 Manche Beobachter sprechen im Zusammenhang mit der 1968er-Bewegung von Neomystik, einer Suche nach dem Heiligen, einem Ringen um Gott. „Trotz aller Säkularisation ist die Mystik wieder da und mit ihr ein neues Interesse an Zeremonie, Kontemplation, ja Vision.“43 Dieses religiöse Gären wirkte sich auf die Gründung etlicher GGB aus. Eine Reihe von Initiatoren geistlicher Gemeinschaften war aktiv in die 1968er-Protestbewegung involviert.44 Die ersten religiösen Pioniergemeinschaften in Frankreich machten sich auf die Suche nach einer alternativen Lebenskultur.45 Sie suchten Alternativen im Umgang mit Geld, Autorität, Natur und sozialem Miteinander. Diese Pioniergemeinschaften firmierten im kirchlichen Raum oft unter dem Begriff „Basisgemeinschaften“. Sie hatten in der Regel ein politisches Profil und setzten den Akzent auf soziale Aktion.46 Insgesamt gesehen bleibt das Jahr 1968 für viele Kommunitäten, egal ob sie sich als „Kinder der Revolution“ verstehen oder sich nur in einer indirekten Abstammungslinie sehen, ein symbolisches Datum.47