Die Spur des Wolfes. Günter Huth
grober Tisch, eine Eckbank, die irgendwo ausrangiert worden war, und mehrere Holzstühle bildeten die Grundausstattung. In der Ecke stand ein alter Kanonenofen. An die Wand gelehnt zwei zusammengeklappte Schlafpritschen aus Militärbeständen. Unter der Eckbank entdeckte er einen Haufen alte Blätter. Anscheinend der Unterschlupf der Maus. Diese Nager fanden immer einen Zugang.
Da Hasenstamm den Fensterladen nicht öffnen wollte, ließ er die Tür offen. Mit einem Ruck schob er den Tisch nach vorne und öffnete den Deckel der tiefen Truhe der Eckbank. Seine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Mit einem zufriedenen Knurren zog er mehrere Kleidungsstücke heraus, die allesamt schon bessere Tage gesehen hatten. Anscheinend hatten die Mäuse noch keinen Weg in die Truhe gefunden, denn die Sachen waren nicht angefressen. Ein warmer Parka mit Innenfutter zeigte zwar einen Riss am Ärmel, der war aber zu vernachlässigen. Schließlich wollte er nicht auf eine Modenschau. Zwei unterschiedlich große, stark verdreckte Schnittschutzhosen mit Latz und Hosenträgern, wie sie Holzfäller bei der Arbeit mit Motorsägen trugen, kamen unter einer alten Wolldecke zum Vorschein. Dabei eine speckige Basecap mit dem Emblem eines bekannten Motorsägenherstellers. Zwischen den Kleidungsstücken steckten mehrere dicke, wollene Socken und einige Arbeitshandschuhe. Obenauf, in einer Plastiktüte, fand er ein paar verblichene Joggingschuhe. Die Größenangabe auf dem groben, stark abgenutzten Profil der Sohle war nicht mehr zu erkennen. Hasenstamm setzte sich und hielt einen Schuh gegen die Sohle seines Straßenschuhs. Wahrscheinlich eine Nummer zu groß, aber dem konnte man abhelfen. Er zog sich aus und probierte die größere der Hosen. Zum Glück hatten die Schutzhosen keine signalfarbenen Einsätze. Die Hose war ein paar Zentimeter zu kurz, dafür etwas zu weit. Aber das war mit den Hosenträgern problemlos zu regulieren. Er fand zwei passende Socken, die zwar stark getragen wirkten, aber trocken waren. Er zog sie an, dann schlüpfte er in die Joggingschuhe, die er vorher mit Blättern der vergilbten Zeitung ausgestopft hatte, die neben dem Ofen lag. Einen Moment dachte er darüber nach, ob er die abgelegte Kleidung im Ofen verbrennen sollte, verzichtete dann aber darauf. Der Rauch aus dem Kamin würde weit durch den Wald ziehen und zu riechen sein. Er bündelte das Jackett, die Hose, Schuhe und die Socken zusammen, nachdem er die Pistole vorne in die Tasche des Brustlatzes gesteckt und das Messer in der Hosentasche verschwinden lassen hatte. Er warf die Truhe zu und rückte den Tisch wieder zurecht. Dann packte er das Bündel und verließ die Hütte. Ohne Probleme konnte er den Riegel wieder verschrauben. Er schmierte etwas Erde auf die Schlitze der Schrauben, da an den Stellen, wo er das Messer angesetzt hatte, blanke Stellen zu sehen waren. Er fuhr mit den Fingerspitzen über den Fichtennadelteppich vor dem Eingang und verwischte damit jeden Schuhabdruck. Schon war von außen nichts mehr von seinem Besuch zu sehen. Sein Aufenthalt hatte knapp zwanzig Minuten gedauert. Zügig marschierte er weiter.
Erst in der späten Abenddämmerung traute sich die Maus wieder in die Hütte zurück.
Hasenstamm orientierte sich immer wieder am Stand der Sonne, wenn er sie durch das Blätterdach sehen konnte. Noch zwei Stunden Fußmarsch, dann hatte er das Gebiet erreicht, in dem er sich die nächsten zwei Wochen verstecken wollte. Obwohl ihm unter dem Parka sehr warm war, fühlte sich Wolfgang Hasenstamm von Minute zu Minute besser. Die letzten fünf Jahre im Knast waren für ihn, der es von Jugend an gewohnt gewesen war, sich ständig in freier Natur zu bewegen, eine schreckliche Qual gewesen. Eingeengt in die Zelle und den monotonen Knastalltag, begrenzt von Gittern, jeder seiner Schritte bewacht, war er einmal kurz davor gewesen, sich das Leben zu nehmen. Auch wenn er sich diese Verzweiflung nach außen nicht hatte anmerken lassen. Etwas Abwechslung brachte die Arbeit in der anstaltseigenen Schreinerei, für die man ihn als Zimmermann eingeteilt hatte. Gelegentlich besuchten ihn seine Eltern. Sie konnten auch gleich zu Beginn seiner Haft seine Sorge beruhigen, die seinem Wolfshund galt. Sie berichteten ihm, bis jetzt nichts von dem Schicksal des Grauen gehört zu haben. Er war und blieb verschwunden. Wolfgang Hasenstamm machte sich keine Sorgen, der große Rüde kam sehr gut alleine klar und war auch gewitzt genug, um nicht in irgendwelche Fallen zu tappen.
Später blieb sein Vater den Besuchen fern. Seine Mutter berichtete ihm, dass es ihm sehr schlecht gehe.
Während des Prozesses hatte man bei ihm einen Prostatakrebs diagnostiziert, der nicht mehr operiert werden konnte. Deshalb nahm Wolfgang Hasenstamm bei der Gerichtsverhandlung alle Schuld bezüglich des toten Försters auf sich. Zwischen ihm und seinem Vater bestand eine besondere Beziehung und er wollte nicht, dass sein Vater im Gefängnis sterben musste.
Vor einem Dreivierteljahr besuchte ihn dann sein Vater zum letzten Mal. Diesen Besuch würde er nie vergessen. Richard Hasenstamm war alleine gekommen. Der Mann war nur Haut und Knochen. An einem etwas abseits gelegenen Tisch nahmen sie einander gegenüber Platz. Quer über den Tisch verlief eine etwa dreißig Zentimeter hohe Trennwand, so dass sich ihre Hände nicht berühren konnten. Im Raum verteilt saßen an strategisch günstigen Punkten mehrere Vollzugsbeamte, die scharf darauf achteten, dass keine Gegenstände ausgetauscht wurden. Trotz dieser Überwachung gelang ihnen so etwas wie Intimität.
„Junge“, begann Richard Hasenstamm mit leiser Stimme. Alleine dieses Wort enthielt so viele ungewohnte Emotionen, dass Wolfgang sofort hellhörig wurde. Gefühle zu zeigen war in der Familie nicht üblich.
„Jetzt red schon!“, forderte Wolfgang ihn auf, da ihn die Atmosphäre belastete.
„Junge, wir wissen beide, dass eigentlich ich hier sitzen müsste.“ Das Gespräch strengte ihn sichtlich an. Er atmete tief durch. Als Wolfgang etwas entgegnen wollte, hob er abwehrend die Hand. „Letzte Woche habe ich eine neue Diagnose bekommen. Der Krebs ist stark fortgeschritten und hat überall im Körper gestreut. Die Ärzte geben mir noch ein halbes Jahr. Aber das ist in Ordnung so. Die Quälerei muss dann mal ein Ende haben.“
Wolfgang Hasenstamm sah seinen Vater durchdringend an. Der fuhr entschlossen fort: „Bevor ich den Abgang mache, will ich allerdings noch meine Schuld bei dir abtragen. Mir ist klar, wie sehr du hier, hinter diesen Gittern, leidest.“ Noch immer schwieg Wolfgang und ließ seinen Vater nicht aus den Augen. Der sah sich vorsichtig im Raum um, ob sie besonders beobachtet wurden. Als er feststellte, dass dies nicht der Fall war, nahm er mit noch leiserer Stimme seinen Gesprächsfaden wieder auf. „Ich möchte dir die Gelegenheit geben, von hier abzuhauen.“
Wolfgang Hasenstamm zog die Augenbrauen in die Höhe. „Wie soll das gehen?“
„Hör mir gut zu. Ich war nach der Diagnose bei einem Anwalt, bei dem ich so tat, als wolle ich mich wegen ein paar Erbschaftsfragen erkundigen. Dabei habe ich auch erwähnt, dass du im Knast sitzt, und gefragt, ob es da mit der Vererberei Probleme gäbe und ihn so nebenbei gefragt, ob mein Sohn bei meiner Beerdigung dabei sein kann, auch wenn er im Gefängnis sitzt. Der hat dann in seinen schlauen Büchern nachgeschaut und mir gesagt, dass Strafgefangenen bei familiären Angelegenheiten, wozu auch die Beerdigung naher Angehöriger zählt, ein bewachter Ausgang genehmigt werden kann.“ In den Augen des Alten blitzte ein Stück weit die alte Bauernschläue auf. In seinem Blick lag die Frage, ob Wolfgang ihn auch richtig verstanden hatte.
„Du meinst …?“
Richard Hasenstamm nickte. „Ich kann dir nur die Gelegenheit verschaffen, was du daraus machst, ist deine Sache.“
Für einen Moment herrschte zwischen den beiden Schweigen. Wolfgang musste diese Nachricht erst einmal verdauen. Schließlich fuhr der Alte nüchtern fort: „Da ich nicht elendig verrecken will, werde ich den Termin meines Ablebens selbst bestimmen. Du wirst ihn erfahren, dafür werde ich sorgen. Das gibt dir die Möglichkeit, deine Flucht etwas zu planen.“
Wolfgang Hasenstamm sah seinen Vater ablehnend an. „Das will ich nicht!“
„Aber ich“, gab Richard Hasenstamm hart zurück. Es war klar, dass er keinen Widerspruch dulden würde. „Das ist allein meine Entscheidung!“ Seine Stimme hatte sich etwas erhoben, was einen Vollzugsbeamten veranlasste herüberzusehen. Da aber nichts Außergewöhnliches geschah, döste er weiter vor sich hin. Wolfgang war klar, dass der Entschluss seines Vaters feststand. Nach einem tiefen Atemzug fuhr der Senior fort: „Dies ist mein letzter Besuch. Wenn du von meinem Tod erfährst, kannst du davon ausgehen, dass ich an dem uns bekannten Platz entsprechende Ausrüstung versteckt habe. Damit bist du fürs Erste versorgt.“ Wieder trat ein längeres Schweigen ein. „Am besten, du verschwindest ins Ausland. In