Die Spur des Wolfes. Günter Huth
schön nach Vorschrift, dachte Hasenstamm grimmig, hob die Waffe und gab einen Schuss in Richtung des Beamten ab, der sich daraufhin hinter einen Grabstein warf. Offenbar sah er dann ein, dass diese Einzelaktion von ihm sinnlos war. Als sich Hasenstamm seinerseits hinter ein Grabmal in Deckung brachte, drehte er sich um und rannte im Zickzack geduckt zum Fahrzeug. Er musste Verstärkung anfordern. Mit zitternden Händen wählte er die Nummer der Einsatzzentrale.
Hasenstamm gab sich nicht länger mit den Beamten ab. Er hatte nicht vor, sich hier ein Feuergefecht zu liefern. So schnell wie möglich musste er hier weg. Zügig, aber ohne Hast öffnete er die Handschellen und warf sie achtlos hinter sich ins Grab. Angespannt wandte er sich ab und musterte die Hecke in Richtung Wald. Eine weniger dichte Stelle mit schwächerem Bewuchs hatte er schon bemerkt, als man ihn zum Grab führte. Mit einem schnellen Blick überzeugte er sich davon, dass ihm von dem übrig gebliebenen Vollzugsbeamten keine Gefahr drohte, dann nahm er aus dem Stand Anlauf und brach mit Gewalt durch die Zweige. Die Kratzer, die ihm einige störrische Zweige ins Gesicht schlugen, ignorierte er.
Als der Notarzt später eintraf, konnte er nur noch den Tod des einen Vollzugsbeamten feststellen. Der extrem wuchtige Stoß mit dem scharfen Schaufelblatt hatte die Halsschlagader, die Luft- und die Speiseröhre durchtrennt. Die Obduktion würde ergeben, ob der Beamte verblutet oder womöglich schon vorher an seinem eigenen Blut erstickt war. Der zweite Vollzugsbeamte, dessen Gesicht und Augen von dem aggressiven Pfefferspray verätzt waren, wurde versorgt und dann ins nächste Krankenhaus transportiert. Der Mann stand massiv unter Schock.
Die vom Fahrer des VW-Busses verständigte Polizei traf kurz nach dem Notarzt ein. Die Streifenpolizisten begutachteten kurz den Tatort, dann verständigten sie die Mordkommission in Würzburg. Anschließend sperrten sie den Friedhof ab und verwehrten den immer zahlreicher werdenden Neugierigen aus dem Dorf den Zutritt. Die Nachricht von der Bluttat auf ihrem Friedhof hatte sich in dem kleinen Spessartdorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen und heizte die Gerüchteküche enorm an.
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Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner, Leiter der Würzburger Mordkommission, traf gleichzeitig mit der Spurensicherung in einem mit allem möglichen elektronischen Equipment ausgestatteten Einsatzbus am Tatort ein. Sein Stellvertreter, Kriminalhauptkommissar Kauswitz, saß während der Fahrt am Steuer, so dass sich Brunner in der Zeit telefonisch erste Einzelheiten über den Tatablauf und den Täter verschaffen konnte. Nachdem er erfahren hatte, dass es sich bei dem flüchtigen Täter um einen gewissen Wolfgang Hasenstamm handelte, schlugen bei ihm sofort alle Alarmglocken. Der Name war ihm durchaus in Erinnerung. Er selbst hatte vor ungefähr sieben Jahren, damals noch als stellvertretender Leiter der Mordkommission, im Fall eines getöteten Forstbeamten ermittelt. Der Mann war in einem Revier, etwa zwanzig Kilometer von Wiesmühl entfernt, abends auf die Jagd gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr zurückgekehrt. Ein Kollege fand ihn, schrecklich zugerichtet, im Wald.
Im Rahmen der Ermittlungen geriet auch der Name Hasenstamm ins Visier der Kriminalpolizei. Die Beamten hatten aus der Bevölkerung anonyme Hinweise erhalten, dass ein Richard Hasenstamm und sein Sohn Wolfgang, die in der Nähe des Dorfes in einer heruntergekommenen Mühle lebten, wildern würden. Allerdings gab es keine konkreten Zeugenaussagen. Natürlich war Brunner dieser Spur nachgegangen und hatte das Umfeld der Hasenstamms gründlich durchleuchtet. Er erinnerte sich noch ganz genau, weil der Fall so frustrierend gewesen war. Vater und Sohn hatten jede Aussage verweigert. Die Mutter bestätigte, dass die beiden Männer zum Tatzeitpunkt in der Mühle waren. Eine Tante, die mit in der Mühle lebte, schwieg.
Im Umfeld ermittelten die Beamten, dass Wolfgang Hasenstamm Zimmermann gelernt hatte, dann längere Zeit auf Wanderschaft gewesen und irgendwann wieder aufgetaucht war. Er brachte einen jungen Wolfshund mit, der mit ihm in der halb verfallenen Mühle am Rande von Wiesmühl lebte und ihm praktisch nicht von der Seite wich. Die Menschen meinten, der Hund sei gefährlich. Da der tote Förster am Hals Bisswunden von einem großen Raubtier aufzeigte, bekam man eine richterliche Durchsuchungsanordnung und durchforstete die Mühle. Aber man fand weder Hinweise auf illegale Aktivitäten der beiden noch den Hund. Wolfgang Hasenstamm gab damals an, das Tier sei ihm entlaufen. Es gelang den Beamten allerdings, am Fressnapf des Hundes Genmaterial sicherzustellen. Man verglich es mit den Spuren, die man an der Wunde des Försters gefunden hatte. Sie waren übereinstimmend. Hasenstamms Wolfshund hatte also den Förster angefallen. Es war allerdings nicht feststellbar, ob das Tier auf den Förster gehetzt worden war oder aus eigenem Antrieb angegriffen hatte. Blieb nur noch zu klären, wer den Pfeil abgeschossen hatte, der für sich alleine gereicht hätte, den Förster zu töten.
Als die Beamten Wolfgang Hasenstamm festnehmen wollten, war er verschwunden. Richard, der zweite als Täter in Frage kommende Verdächtige, bekam von seiner Frau und seiner Schwester für die Tatzeit ein Alibi und musste wieder aus der Untersuchungshaft entlassen werden. Zu seinem Sohn befragt, verweigerte er die Aussage. Er blieb zwar im Fokus der Ermittler, verhielt sich aber vollständig unauffällig. Damals begann die Jagd auf Wolfgang Hasenstamm. Sie gestaltete sich allerdings äußerst schwierig. Er hatte sich offenbar mit seinem großen Wolfshund in die Wälder zurückgezogen. Immer wieder fanden Jäger und Förster Spuren, dass in den Spessartrevieren gewildert wurde. Die Pfotenabdrücke eines großen Wolfes in der Nähe eines toten Rehs oder eines Hirschkalbs sprachen dabei eine beredte Sprache. Hasenstamm und der Wolf teilten sich dabei wohl die Beute, denn Teile des Wildes zeigten Fraßspuren, andere Stücke waren mit dem Messer aus den Kadavern herausgetrennt. Man verdächtigte Hasenstamm, von den Höfen der Bauern Enten, Gänse und Hühner zu stehlen. Gelegentlich wurde auch in Kellern eingebrochen. Straftaten, die auch ihm zugeordnet wurden. Erwischt wurde er nie. Als ein Förster an einem Morgen ein frisch gerissenes Reh und bei der Beute eindeutige Wolfs- und Schuhspuren fand, verständigte er sofort die Polizei. Eberhard Brunner war eine Stunde später mit zwei Hundeführern und drei weiteren Beamten am Riss. Zunächst kam Rex, ein erfahrener Deutscher Schäferhund, zum Einsatz. Der kräftige Rüde nahm sofort die Fährte auf. Der zweite Hundeführer folgte mit seinem jungen Dobermannrüden Sascha in einigen Meter Abstand hinterher. Sascha hatte erst vor kurzem seine Ausbildung abgeschlossen und sollte erst dann zum Einsatz kommen, wenn der Erfolg der Suche abzusehen war. In Begleitung des Försters, der als ortskundiger Führer diente, ging es fast einen Kilometer über Stock und Stein, rauf und runter über die Höhenzüge des Spessarts. An Rex’ Verhalten erkannte der Beamte, dass der Rüde noch immer auf der Fährte war. Gelegentliche Schuh- und Pfotenabdrücke im weichen Waldboden gaben weitere Hinweise. Vor einer dichten Fichtenanpflanzung zog Rex plötzlich stark am Riemen. Der Förster erklärte ihnen, dass es sich um eine mehrere Hektar große Anpflanzung handele, die sehr dicht und daher nur sehr schwer zu durchdringen sei. Nach kurzer Beratung entschlossen sich die beiden Hundeführer, ihre Hunde von der Leine zu lassen, so dass sie sich frei vor ihnen bewegen konnten. Die beiden Beamten wollten ihnen so schnell wie möglich folgen. Rex und Sascha waren gleich zwischen den dicht stehenden Bäumen verschwunden. Schon nach wenigen Metern mussten die nachfolgenden Männer feststellen, dass der Forstbeamte recht hatte, das Gehölz war wirklich fast undurchdringlich. Teilweise mussten die beiden Beamten auf allen vieren kriechen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Von ihren Hunden hörten sie zunächst nichts mehr. Beide waren so abgerichtet, dass sie Laut geben würden, wenn sie auf etwas gestoßen wären.
Die beiden Männer verloren langsam jegliches Zeitgefühl. Sie verständigten sich gegenseitig durch Zurufe, da sie kaum Sichtkontakt hatten. Plötzlich hörten sie ein ganzes Stück vor ihnen wütendes Bellen, dann lautes Knurren. Kurz darauf rumpelte es laut, dabei hörte man ein wildes, fauchendes Knurren, das wenig später von heftigem Schmerzensgejaule unterbrochen wurde. Das war eindeutig Kampfeslärm! Wahrscheinlich waren die Hunde auf den Wolf gestoßen und er stellte sich seinen Verfolgern. Die beiden Beamten ließen alle Vorsicht fahren. Mit Armen und Beinen wühlten sie sich durch die Zweige in Richtung Kampfplatz. Sie mussten ihren Hunden unbedingt zu Hilfe eilen! Als sie Minuten später, völlig verschwitzt, verdreckt und mit Fichtennadeln bedeckt mit gezogenen Dienstwaffen vor ihren vierbeinigen Kameraden standen, zerriss es ihnen fast das Herz. Rex lag mit durchbissener Kehle im Dreck und