Die Spur des Wolfes. Günter Huth

Die Spur des Wolfes - Günter Huth


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müssen durchbrechen, sonst haben sie uns!“, brüllte der Mann.

      Als offensichtlich war, dass der Wagen nicht anhalten würde, kniete einer der Beamten nieder und gab einen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole ab. Zwei andere Polizisten schossen mit ihren Pistolen. Sie hielten tief, weil sie die Vorderreifen treffen wollten, verfehlten aber ihr Ziel. Einige Projektile schlugen wirkungslos in die Karosserie ein, dann war die Distanz zusammengeschrumpft und die Beamten mussten sich in letzter Sekunde durch hastige Sprünge zur Seite in Sicherheit bringen.

      Der Renault raste durch die bestehende Lücke. Das Blech der Fahrzeuge kreischte auf, als der kleine Wagen beiderseits an den Stoßstangen der Streifenwagen entlangschrammte und sie ein Stück zur Seite schleuderte. Dabei verlor er nur geringfügig an Geschwindigkeit. Mit eiserner Hand hielt sie den Wagen in der Spur, der für einen Moment ausbrechen wollte.

      Bis die Beamten sich wieder aufgerappelt hatten und die ersten Salven hinter dem Fluchtfahrzeug herfeuerten, hatte dieses fast die nächste Kurve erreicht. Drei, vier Projektile schlugen blechern in die Heckklappe ein, blieben aber anscheinend in den Polstern der Rücksitze stecken.

      Die Anspannung der männlichen Person entlud sich in einem lauten, triumphalen „Ja!“. Die Frau gab weiter konzentriert Gas. Sie sagte nichts, aber ihre Nerven waren bis zum Äußersten angespannt.

      „In ungefähr zweihundert Metern kommt eine Rückegasse. Fahr da ein Stück rein und halte an. Ich verschwinde dann“, erklärte er knapp. „Ehe die Bullen merken, dass sie uns auf den Leim gegangen sind, bin ich in Sicherheit. Du fährst dann auf dieser Rückegasse weiter. Sie führt den Hang hinauf, dabei schneidet sie mehrere Forstwege. Aber die alte Kiste müsste das schaffen. Nimm die Schleichwege am alten Steinbruch entlang, dann verstecke dich mit dem Wagen in einer Dickung, bis es dunkel wird. Erst dann kehrst du zu eurem Hof zurück. Mit Sicherheit werden sie dort auf dich warten. Wenn sie dich in die Mangel nehmen, sag einfach, ich hätte dich zu allem gezwungen. Ansonsten schweigst du. Da können sie dir nicht viel anhaben.“

      Durch das offene Fenster vernahm er ein knatterndes Geräusch. Er spähte nach oben. Über ihnen schwebte ein Hubschrauber. Verflucht, das hatte ihm gerade noch gefehlt.

      „Anna, da rein!“, schrie er und deutete auf einen schnell herannahenden schmalen Waldweg. Die junge Frau zwang den schwankenden R 4 in die Rückegasse. Sie fuhr mit verminderter Geschwindigkeit die Gasse ein Stück weit entlang, dann bremste sie ab. Er beugte sich herüber, gab ihr schnell einen Kuss, dann riss er die Tür auf und sprang hinaus. Über sich hörte er nach wie vor den Hubschrauber, der aber wegen des dichten Blätterdaches praktisch keine Sicht auf den Boden hatte. Ihm war aber klar, dass die Piloten geländegängige Einsatzfahrzeuge aus der Luft einweisen würden.

      „Anna, fahr jetzt weiter. Wie besprochen bleibe ich so lange im Wald, bis einigermaßen Gras über die Sache gewachsen ist. Irgendwann hole ich dich, dann gehen wir ins Ausland. So, jetzt muss ich aber verschwinden! Ich liebe dich.“

      „Wolfi, bitte sei vorsichtig!“, rief sie. „Ich liebe dich auch!“

      Er warf ihr ein Lächeln zu und griff sich vom Rücksitz seine Ausrüstung. Mit Schwung schulterte er einen Rucksack, dann drückte er die Türen leise zu. Ein kurzes Winken, dann marschierte er einen sanft ansteigenden Spessarthang hinauf. Einen Steinwurf weit entfernt nahm ihn eine Dickung auf und entzog ihn endgültig seinen Verfolgern aus der Luft. Nachdem er innerhalb der Dickung eine längere Strecke zurückgelegt hatte, blieb er auf einer freien Stelle stehen und kontrollierte seine Ausrüstung. Im Köcher steckten zwanzig Jagdpfeile. Ihre rasiermesserscharfen Spitzen trugen Schutzhüllen, damit man sich nicht an ihnen verletzte. Der Langbogen steckte entspannt in einem schlanken Etui. Mit wenigen Handgriffen konnte er einsatzbereit gemacht werden. Sein langes Jagdmesser hing am Gürtel. Nachdem er sich überzeugt hatte, dass alles einsatzbereit war, marschierte er bis zum Ende der Dickung. Vorsichtig blieb er zwischen den Randbäumen stehen und spähte hinaus in den Hochwald. Kurz orientiere er sich, dann legte er beide Hände wie einen Schalltrichter an den Mund, legte den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Heulen aus. In mehreren Intervallen hob und senkte sich seine Stimme. Dann brach er ab und lauschte. Kurz darauf wiederholte er den Vorgang. Er wusste, dass der Schall von dieser Anhöhe aus ziemlich weit trug. Nach der dritten Wiederholung wartete er. Als er nach einiger Zeit aus der Ferne eine Antwort bekam, huschte ein schmales Lächeln über sein Gesicht. Es geschah fast lautlos. Plötzlich tauchte neben ihm im Unterholz ein großer, dunkler Schatten auf. Der Wolfshund gab ein hohes Winseln von sich, während er den Mann mit gesenkter Rute, angelegten Ohren und leicht geduckter Haltung begrüßte. Der Mann griff ins Fell des Wolfshundes und zauste es rau, aber herzlich. „Brav, mein Grauer. Ich freue mich ja auch, dich wiederzusehen.“

      Die junge Frau gab wieder Gas und der unverwüstliche R 4 zog zuverlässig die Rückegasse entlang. Jetzt, wo der Mann das Fahrzeug verlassen hatte, konnte sie ihrem Schmerz nachgeben. Keuchend verzog sie das Gesicht und griff mit der rechten Hand nach ihrer linken Schulter. Betroffen warf sie einen kurzen Blick auf das Blut an ihren Fingern. Offenbar hatte eines der Projektile, die die Polizisten auf das Auto abgefeuert hatten, noch genug Kraft besessen, um in ihre Schulter einzudringen. Wie es sich anfühlte, steckte es oberhalb des Schulterblattes in der Muskulatur. Zum Glück hatte es Wolfgang Hasenstamm, ihr Gefährte, wegen der stressigen Flucht nicht bemerkt, sonst hätte er sie sicher nicht verlassen. Sie biss die Zähne zusammen. Die Wunde war ziemlich schmerzhaft, aber wahrscheinlich nicht sehr gefährlich. Sie musste noch eine Weile durchhalten, ehe sie sich zuhause in die Obhut eines Arztes begeben durfte. Der Renault zog jetzt einen Hang hinauf. Der Hubschrauber schwebte weiterhin über ihr. Wolfgangs Einschätzung traf zu. Wegen des Blätterschirms war es ihnen verborgen geblieben, dass er das Fahrzeug verlassen hatte.

      Hasenstamm hatte sie auf dem Kirchweihfest vor zwei Jahren kennengelernt. Sie war mit Freunden auf dem Fest, weil sie dort ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte. Es war ein fröhlicher Abend und sie hatte viel getanzt. Die Toilettenanlagen der Gastwirtschaft, in deren Saal die Veranstaltung stattfand, lagen jenseits des Hofes in einem Anbau. Als sie die Örtlichkeiten aufsuchen musste, wurde sie von einem betrunkenen Festbesucher, der im Dämmerlicht des schlecht beleuchteten Hofes herumlungerte, belästigt und begrapscht. Sie wehrte sich zwar heftig, kam aber gegen die Kräfte des Mannes nicht an. In diesem Augenblick trat Wolfgang Hasenstamm wie aus dem Nichts hervor und schnappte sich den Burschen. Er prügelte ihn windelweich und gab ihm zum Schluss einen Tritt in den Hintern, der ihn auf den Heimweg beförderte. Von diesem Tag an waren sie und Wolfi zusammen. Erst nach und nach erfuhr sie von der gefährlichen Obsession, die ihren Freund beherrschte. Und sie bekam mit, welchen negativen Einfluss Wolfgang Hasenstamms Vater Richard auf seinen Sohn hatte. Immer wieder versprach er ihr, mit der Wilderei aufzuhören, immer wieder wurde er rückfällig. Lange Zeit konnten sich Vater und Sohn der Polizei entziehen. Irgendwann musste etwas Gravierendes passiert sein, etwas, worüber er nicht mit ihr sprach, etwas, das ihn aber sehr belastete. Die Polizei intensivierte ihre Verfolgung. Auch sie wurde mehrmals vernommen, leugnete aber jede Verbindung. Anscheinend wurde sie in der Folgezeit überwacht. Aber immer wieder war es ihr gelungen, sich heimlich mit Wolfgang im Wald zu treffen. Heute war die Falle nun zugeschnappt. Sie hatte sich mit Hasenstamm in ihrem Auto an einer verborgenen Stelle im Wald getroffen. Auf der Rückfahrt war ihnen plötzlich ein Polizeifahrzeug gefolgt. In ihrer Verblendung sah sie für sich keine andere Wahl, als ihm zur Flucht zu verhelfen.

      Nur mit eisernem Willen konnte sie den zunehmenden Schmerz ertragen, der durch das Holpern des Wagens noch verstärkt wurde. Plötzlich registrierte sie, dass sie sich kurz vor dem ihr bekannten aufgelassenen Steinbruch befand, den sie laut Wolfgang oberhalb der Abbruchkante passieren sollte. Der Boden war rutschig vom letzten Regen und verlangte von ihr volle Konzentration. Plötzlich bemerkte sie im Rückspiegel zwischen den Bäumen eine Bewegung. Erschrocken stellte sie fest, dass ihr ein geländegängiges Polizeifahrzeug folgte und zügig immer näher kam. Offenbar hatte sie der Hubschrauber doch gesehen. Sie gab zwar Gas, aber ihr war klar, dass sie auf Dauer gegen den Geländewagen keine Chance hatte. Sie wollte ihre Festnahme aber so lange wie möglich hinauszögern, damit Wolfi einen ausreichenden Vorsprung bekam.

      Die Absturzkante des alten Steinbruchs war nicht abgesichert. Wer sich hier nicht auskannte, lief Gefahr, in den Abgrund zu stürzen. Wenn die Polizisten


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