Die Spur des Wolfes. Günter Huth
zweifelte an der Ernsthaftigkeit seiner Drohung.
Auch der kooperative Strafgefangene behauptete, von dem Fluchtplan Hasenstamms keine Ahnung gehabt zu haben. Wolfgang Hasenstamm teilte sich niemandem mit. Er sprach nur das Nötigste. Wie der Gefangene berichtete, hatte sich Hasenstamm nur einmal, es war, wie er sagte, der Jahrestag des Todes seiner Freundin, emotional berührt gezeigt und sein Schweigen ein wenig gebrochen. Dabei habe er sich dahingehend geäußert, dass er ein ausgezeichnetes Personengedächtnis habe und sich ihm alle Gesichter der Menschen, die am Tod seiner Anna beteiligt gewesen waren, eingebrannt hätten.
Diese Informationen wurden umgehend an Eberhard Brunner weitergegeben. Beim Studium der Verfahrensakten stieß er auf der Rückseite eines Blattes auf einen interessanten handschriftlichen Vermerk, den er fast übersehen hätte. Danach hatte man die damalige Anordnung der Ordnungsbehörde, die eine Tötung des als höchst gefährlich eingestuften Wolfshunds Hasenstamms bestimmt hatte, nicht vollzogen. Wenige Monate nach der Verurteilung Hasenstamms stellte ein Wissenschaftler, der im Spessart zu Studienzwecken ein Versuchsgehege mit einem kleinen Wolfsrudel unterhielt, den Antrag, ihm einen ihm zugelaufenen Wolfsrüden zu überlassen. Er benötige Ersatz für einen eingegangenen Leitrüden und garantiere, dass von dem Tier keine Gefahr mehr ausgehen würde. Daraufhin wurde das „Todesurteil“ aufgehoben. Zweck der Studie war es, die Rudelstrukturen einer Wolfsfamilie zu studieren, um daraus Erkenntnisse für das Wolfmanagement in Bayern zu gewinnen. Die Spezies Wolf, die sich in den letzten Jahren als Einwanderer aus dem Osten viele ihrer alten Jagdgründe in Teilen Deutschlands zurückerobert hatte, stand nach Expertenmeinung auch kurz vor der Einwanderung in den Spessart.
Brunner ging in Gedanken eine Liste der Personen durch, die mit dem damaligen Unfalltod von Hasenstamms Freundin in Verbindung gebracht werden konnten. Für ihn gab es keinen Zweifel, Simon Kerner und er standen an oberster Stelle. Hasenstamm hatte im Prozess ja deutlich vor Augen geführt bekommen, wer den Schießbefehl zu verantworten hatte. Besonderes Kopfzerbrechen bereitete dem Leiter der Mordkommission die Tatsache, dass sich Hasenstamm bei der Flucht in den Besitz einer Schusswaffe gebracht hatte. Die ganze Art und Weise, wie er sich befreit hatte, ließ keinen Zweifel daran, wie skrupellos der Mann war. Eberhard Brunner war sich absolut sicher, dass Hasenstamm rücksichtslos von ihr Gebrauch machen würde.
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Hasenstamm brachte die Strecke vom Friedhof bis zum Waldrand mit größtmöglichem Tempo hinter sich. Dort brach er mit Gewalt durch den Randbewuchs des Hochwaldes. Dass er sich dabei an Brombeersträuchern zahlreiche Kratzer und Risswunden zufügte und auch sein Anzug Risse erhielt, nahm er kaum zur Kenntnis. Ihm war klar, dass der Alarmanruf des handlungsfähig gebliebenen Vollzugsbeamten bei den Verantwortlichen zu einer hektischen Betriebsamkeit führen würde. Viele Hunde sind des Hasen Tod, sagte man. Hasenstamm beabsichtigte diese Volksweisheit zu widerlegen. In der nächsten Stunde musste er so viel Distanz wie möglich zwischen sich und seine Verfolger bringen und dann erst einmal untertauchen, bis sich der erste Aktionismus des Polizeiapparats etwas gelegt hatte. Schon nach kurzer Zeit waren seine billigen schwarzen Straßenschuhe verdreckt und vom feuchten Erdreich durchweicht. Er musste sich so schnell wie möglich andere Kleidung und Schuhe besorgen. Hasenstamm lauschte kurz. In weiter Ferne waren die Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören. Sie waren schnell, das musste er zugeben. Entschlossen rückte er die Pistole hinter dem Gürtel zurecht, dann marschierte er eilig weiter. Er war sich sicher, bald würden die ersten Hubschrauber über dem Gebiet kreisen.
Hasenstamm hatte den Vorteil, dass er genau wusste, wo er sich befand. Die Wälder um Wiesmühl kannte er seit seiner Jugend wie seine Hosentasche. In der nächsten Senke stieß er auf einen schmalen Waldbach, der, wie er wusste, sich eine ganze Strecke durch das Tal zog und am Ende in den künstlichen Teich einer Karpfenzuchtanlage mündete. Dank der Regenfälle der vergangenen Tage führte der Bach ausreichend Wasser. Ohne zu zögern, stieg er mit seinen Schuhen hinein und folgte dem Gewässer. Mit diesem Trick hatte er sich schon einmal vierbeinige Verfolger vom Hals gehalten. Er achtete sorgsam darauf, dass er mit seinen Hosenbeinen nicht am Uferbewuchs anstreifte. Hasenstamm war sicher, dass die Hundeführer, sobald die Hunde seine Spur verloren, ein ganzes Stück am Ufer weiterlaufen würden, um die Stelle zu finden, wo er den Bach wieder verlassen hatte. Eine Dreiviertelstunde später sprang er an einer bestimmten Stelle mit einem langen Satz aus dem Wasser heraus. Hier erstreckte sich beiderseits des Fließgewässers felsiger Grund, auf dem seine Witterung nicht lange halten würde. Hasenstamm setzte sich ein ganzes Stück entfernt auf einen umgestürzten Baumstamm. Er zog seine Schuhe aus und ließ das Wasser herauslaufen. Anschließend wrang er seine Socken aus und zog sie sich wieder an. Weit konnte er mit dem durchweichten Schuhwerk nicht mehr laufen, sonst würde er Blasen bekommen. Es war außerdem dringend notwendig, sich neue, zweckmäßigere Kleidung zu besorgen. Er wusste, wo er Ersatz bekommen konnte. Nach seiner Kenntnis befand sich etwa einen Kilometer von seinem jetzigen Standort entfernt eine Waldarbeiterhütte. Sie diente den Holzhauern vor allen Dingen im Winter als Unterstand, in dem man sich aufwärmen und seine Mahlzeiten einnehmen konnte. Jetzt, im Sommer, wurde die Hütte wahrscheinlich gar nicht benutzt. Vor seiner Verhaftung hatte sich Hasenstamm mit seinem Vater öfter einmal in diese oder ähnliche Behausungen zurückgezogen, wenn sie auf Wilderertour waren. Schwitzend zog er sich das Anzugjackett aus und öffnete die Knöpfe seines Hemdes bis zum Gürtel. Dichte schwarze Brusthaare drängten sich hervor.
Während er einen vergrasten Waldweg entlangmarschierte, fiel sein Blick auf eine Ansammlung von Baumschösslingen, die alle an der Spitze, am Leittrieb, verbissen waren. Hasenstamm nahm dies zufrieden zur Kenntnis. Die Verursacher dieses Verbisses waren unzweifelhaft Rehe. Für ihn ein wichtiger Hinweis, dass in der Gegend ausreichend Wild vorhanden war. Seine Ernährung war also gesichert.
Die Waldarbeiterhütte stand ein Stück abseits von einem schmalen Forstweg, am Rande einer Fichtenkultur. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren die Bäume kaum drei Meter hoch. In den Jahren, die er im Knast verbracht hatte, waren die schnellwüchsigen Bäume ein ganzes Stück in die Höhe geschossen. Die Hütte hob sich von dem dunklen Hintergrund der tiefgrünen Zweige kaum ab. Der geflohene Sträfling blieb eine ganze Zeit lang hinter dem Stamm einer dicken Buche verborgen stehen und beobachtete die Umgebung. Alles war ruhig, keine Menschenseele zu sehen. Auch die Vögel zeigten keinerlei Anzeichen von Beunruhigung. Etwas träge zwitscherten sie in der dumpfen Schwüle. Schließlich verließ Hasenstamm seine Deckung und näherte sich dem Eingang. Er zog nicht einmal seine Schusswaffe, da er fest überzeugt war, dass hier keine Gefahr auf ihn lauerte. Seine Verfolger konnten unmöglich schon hier sein.
Die im Blockhausstil gebaute Behausung war außen schon stark verwittert, was auf ihr hohes Alter schließen ließ. Das aus Teerpappe bestehende Dach zeigte eine dicke Moosschicht, die lediglich um das Kaminrohr, das nach oben herausstand, unterbrochen war. Links vom Eingang stapelte sich entlang der Hüttenwand ordentlich aufgeschichtetes Feuerholz. Darüber befanden sich die geschlossenen Holzläden eines Fensters. Hasenstamm musterte den von Fichtennadeln bedeckten Waldboden in der Nähe des Eingangs. Keine Anzeichen von Fußspuren. Jetzt galt es nur noch das dicke Vorhängeschloss am Eingang zu beseitigen. Der Bügel des Schlosses war durch zwei Löcher des angerosteten Riegels geführt, der dadurch nicht zurückgeschoben werden konnte. Der Riegel war mit der Tür und dem Rahmen verschraubt. Die Schrauben waren ebenfalls verrostet, das Holz, das sie hielt, porös. Hasenstamm hätte den Riegel ohne Probleme mit einem der Holzscheite abschlagen können, das hätte aber auffällige Spuren hinterlassen. Er griff in die Hosentasche und zog das feststellbare Klappmesser heraus, das er dem Vollzugsbeamten abgenommen hatte. Er klappte es auf. Die Schneide der einseitig geschliffenen Klinge war sehr scharf. Hasenstamm drückte die stumpfe, hinter der Spitze liegende Rückseite des Messers in den Schlitz einer der Schrauben. Vorsichtig übte er Druck aus und begann zu drehen. Es ging erstaunlich leicht. Zwei Minuten später war der Riegel mitsamt Schloss entfernt und die Tür ließ sich mit einem protestierenden Quietschen öffnen. Langsam trat er ein. Dabei musste er sich bücken, um nicht gegen den oberen Türstock zu stoßen. Im Raum roch es dumpf und modrig. Nachdem er einen Schritt weitergegangen war, hörte er hinter sich ein Rascheln. Als er herumwirbelte, konnte er gerade