Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer

Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer


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      Ich gestehe Ihnen gleich: Möglicherweise bin ich ein Nexialist. Ein ungewöhnliches Wort, ich weiß. Doch es ist nicht gleich nötig, Google zu bemühen – lassen Sie mich zuvor eine kleine Geschichte erzählen. Als ich ungefähr zwölf Jahre alt war, las ich einen Science-Fiction-Roman. Der Held von Altmeister A. E. van Vogts klassischer Space Opera The Voyage of the Space Beagle – Dr. Elliott Grosvenor – rettet nicht nur einige Male die Besatzung des Raumschiffs Space Beagle vor gefährlichen Aliens, sondern, wenn ich mich richtig erinnere, schließlich auch die ganze Galaxie. Das Besondere dabei ist nun die Art und Weise, wie Grosvenor die großen Probleme angeht und löst. Er ist – Sie ahnen es – Nexialist. Im Rahmen des Romans ist mit Nexialismus eine neuartige Wissenschaft gemeint, der es gelingt, die Essenz und Ideen aller anderen wissenschaftlichen Disziplinen zu verknüpfen und zusammenzudenken. Der raumfahrende Nexialist Grosvenor ist aber kein bloßer „Allround-Wissenschaftler“ – also einer, der von allem ein wenig Ahnung hat und daher eigentlich doch wieder von nichts weiß –, sondern einer, der die wesentlichen Prinzipien und Ideen der unterschiedlichsten Wissenschaften kreativ zu etwas Neuem so geschickt zu verknüpfen versteht, dass auch sehr komplexe Probleme praktisch lösbar werden. Kurz: Nexialismus à la van Vogt ist eine praktische Metawissenschaft, die mehr ist als die Summe der spezialisierten Einzelwissenschaften.

      Dennoch rettet die Besatzung der Space Beagle unter Grosvenor die Galaxie nicht durch einen einfachen nexialistischen Trick – es gibt bei dieser Mission kein billiges Happy End: Viele Jahre lang lockt die Space Beagle den gefährlichen Antagonisten in die Leere des intergalaktischen Raumes, bis das Wesen schließlich verhungert. Hier klingt an: Komplexe Probleme haben nicht immer rasche und bequeme Lösungen, manchmal ist viel Zeit und Mühe aufzuwenden. Wer van Vogts Geschichte im Zeitalter der globalen Erwärmung liest, kann eine gewisse Ironie darin sehen, dass das gefährliche Alien – es ernährt sich von sterbenden Lebensformen aller Art – ganze Planeten zu gigantischen Treibhäusern umgestaltet, sodass die veränderten Biosphären der resultierenden Dschungelplaneten ihm optimale Nahrungsbedingungen ermöglichen.

      Die Idee einer Nexus-Wissenschaft erscheint uns im 21. Jahrhundert nicht mehr so ungewöhnlich – im Gegenteil –, erinnert sie doch an postmoderne sogenannte integrale oder systemische Ansätze oder auch ein wenig an interdisziplinäre Kombinationsstudiengänge (Wirtschaftspsychologie, Wirtschaftsinformatik usf.). Nur veröffentlichte van Vogt The Voyage of the Space Beagle im Jahr 1950, also in einer Zeit, da der Typus des Universalgelehrten eben gerade nicht mehr gefragt war, sondern Spezialisten. Die Frage nach dem Sein des Ganzen der Wirklichkeit war doch sehr aus dem Blick verschwunden, Welt und Wirklichkeit schienen in einzelwissenschaftliche Fragen und technologische Antworten zerlegt. Es war die Nachkriegszeit, in der Martin Heidegger in der modernen Technologie und Technik die zeit- und schicksalsgemäße Gestalt einer Metaphysik erblickte, die vor lauter manipulierbaren und konstruierten Seienden die Beziehungsmöglichkeit zum Sein, dem tiefsten Daseinsgrund, vergessen hatte. Eine Metaphysik, die er „verwinden“ wollte durch eine Besinnung auf die Seins-Vergessenheit und schließlich im Hinhören auf die Dichtungen Hölderlins. Oder, um an einen ähnlichen Gedanken über Magie und Maschinen aus J. R. R. Tolkiens Silmarillion anzuknüpfen, eine Zeit, in der die Menschen ihre Daseinsbedingungen durch Maschinen und Roboter radikal ändern und kontrollieren wollten – und gerade durch diese Hybris bis heute immer wieder zu Fall kommen. Hiroshima, Tschernobyl, Contergan, Bhopal, Seveso, Exxon Valdez, Ozonloch, Fukushima, anthropogene Faktoren des Klimawandels – die Liste der Unfälle oder Auswirkungen technologischer Hybris ist lang. Nicht verwunderlich, dass Dystopien im Science-Fiction-Genre häufig anzutreffen sind.

      Diese Anmerkungen sollen aber nun nicht vorzeitig in eine postmoderne Technologie-Kritik oder Nachhaltigkeitsdiskussion o. Ä. münden. Mit den Auswirkungen wirtschaftlicher Hybris aber werden wir uns immer wieder im ersten Abschnitt des Buches beschäftigen. Zunächst geht es aber darum, zu bekennen, dass ich als Kind von der Idee des Nexialismus doch einigermaßen fasziniert war. Würde ich – so fragte ich mich damals mehr oder minder ernsthaft – einmal wenigstens ansatzweise Nexialist sein? Und: Wie wäre das praktisch überhaupt möglich? Sie ahnen richtig: Das www (World Wide Web) war noch nicht online, als ich den Roman las. Aber was nützt Wikipedia, wenn ich nicht weiß, wie ich mit den Informationen umgehen soll? Bequemer Zugang zu vielen Informationen ist für sich alleine aber noch keine hinreichende Bedingung, um gute Entscheidungen treffen zu können (wenn ich die Schachregeln kenne, bin ich noch kein guter Schachspieler).

      Wenn ich heute auf meine langjährige Berufserfahrung als Investmentbanker zurückblicke, dabei nicht vergesse, dass ich ursprünglich Mathematik studiert hatte und mich in den letzten Jahren vor allem mit Theologie und Philosophie beschäftigt habe; und wenn ich in meinem Beruf als Unternehmensberater für ethische Fragen (Motto: „Brücken bauen zwischen Ethik und Wirtschaft“) auf Methoden zurückgreife, die ich aus meiner Praxis als Exerzitienbegleiter und aus der Geistlichen Begleitung kenne und modifiziert habe, dann muss ich doch sagen, dass es in meinem Leben so etwas wie ein praktisches nexialistisches Moment gibt. Es ist wirksam in der wechselseitigen Befruchtung meiner unterschiedlichen Berufs-, Ausbildungs- und Lebenswege, im Zusammenführen von reflektierten Erfahrungen, im Ausprobieren neuer Ideen und Ansätze. Vielleicht wird man also durch die Verknüpfung von Erfahrungen praktischer Nexialist.

      Nexialistisch zu denken bedeutet, die Vielfalt der Wirklichkeit wahrzunehmen und ihre Unterschiedlichkeiten ungetrennt und unvermischt in Beziehung setzen zu können. Von diesem Denkansatz ist dieses Buch geprägt. Keine Angst: Trotz des dicht gewebten Nexus bleibt darin deutlich ein gedanklicher roter Faden zu erkennen, der zum zentralen Anliegen dieses Buches hinführt. Vor dem Hintergrund offensichtlicher ethischer Defizite in Finanzmärkten und in Unternehmen soll mein Verständnis von Ethik als diskursiver Prozess deutlich werden. Kritisch beleuchtet werden ein allzu normatives Ethikverständnis sowie ein radikal konstruktivistischer Lebensvollzug, der letztendlich – gewollt oder ungewollt – das Ego (= das egoistische Ich!) zum Maß aller Dinge macht und keine Offenheit mehr für Transzendenz kennt. Mit Transzendenz meine ich hier Selbst-Überschreitung. Sie bedeutet nicht gleich eine unmittelbare Einbindung in dieses oder jenes religiöse System, sondern einen „kopernikanischen“ Aufbruch. Dabei verlasse ich die Umlaufbahn um meinen Ego-Planeten und beginne eine Entdeckungsreise in eine Wirklichkeit, die ich nicht selbst hervorbringe. Ich versuche aufzuzeigen, dass ethisches Handeln schrittweise besser gelingen kann, wenn wir zunächst beginnen, die Gründe für unsere selbstverschuldete ethische Unmündigkeit aufzudecken und unsere Mentalität zu hinterfragen. Solche Gründe sind beispielsweise unreflektierte Verhaltensmuster, persönliche Unaufrichtigkeit, egoistische „Wirklichkeitsbrillen“ oder der Glauben an „falsche Sätze“. Falsche Sätze drücken insbesondere solche Handlungsprinzipien und inneren Einstellungen aus, die nur Selbstentfremdung und Selbstinstrumentalisierung bewirken. In falschen Sätzen spiegeln sich unsere ungeordneten Anhänglichkeiten, wie Ignatius von Loyola2 alles nennt, was unsere Lebensentwicklung nachhaltig blockiert.

      Der Glaube an falsche Sätze lässt unser individuelles Leben und die Gestaltung einer gemeinsamen Wirklichkeit misslingen. Woran liegt das? Warum glauben wir an falsche Sätze – und wie hängen sie mit ethischer Unmündigkeit zusammen? Wohl setzt ethisches Handeln ethische Grundsätze voraus, entscheidend bleibt aber die praktische Frage, wie diese Prinzipien im konkreten Einzelfall zur Entscheidungsfindung angewandt werden. Um die Möglichkeit eines rein normativen ethischen Handelns grundsätzlich zu hinterfragen, verweise ich auf analoge Schwierigkeiten bei der axiomatischen Grundlegung der Mathematik. Wenn sogar mathematische Systeme unvollständig sein können, stellt sich umso berechtigter die Frage, ob es so etwas wie „ethische Autopiloten“ für die komplexen Entscheidungen und Handlungsalternativen unseres Alltags und unserer Berufswelt geben kann. Autopiloten haben Schwierigkeiten, in unserer vielschichtigen und komplexen Wirklichkeit zu navigieren. Und die Antwort wird lauten: Es gibt keine „ethischen Autopiloten“, keine vollautomatischen Unterscheidungssysteme, wohl aber ein persönliches ethisches Navigationssystem, ein ethisches GPS. Aber auch ethische Grundsätze müssen von Zeit zu Zeit mit dem ethischen GPS hinterfragt werden. Es gibt keinen absolut gefestigten ethischen „archimedischen Punkt“, von dem aus alles Ethische entschieden werden könnte. Um gute Entscheidungen treffen zu können,


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