Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer

Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer


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Offenheit des Dialogs ist aber keine äußerliche. Die Diskursfähigkeit mit der Wirklichkeit beginnt dabei schon im stillen inneren Dialog mit mir selbst. Ich muss mit mir selbst aufrichtig ins Gespräch kommen können. Und es bedarf einer inneren Haltung des bleibenden Hinhörens und einer Offenheit gegenüber dem, was über mich und alle anderen Menschen hinausgeht. Dabei wird das Hören zunächst wichtiger sein als die voreiligen Bemühungen, gleich zu antworten. Sonst höre ich doch wieder nur meine eigenen Vorurteile.

      Das Buch will Sie einladen, diese und andere Gedanken mitzudenken und mich auf den Wegen des Nachdenkens zu begleiten. Es wäre sehr schön, wenn wir unterwegs gewissermaßen ins Gespräch kämen oder Sie den einen oder andern Impuls mitnehmen könnten. Ich werde von meinen Erfahrungen erzählen, von Einsichten, Gedanken und Ideen. Und ich stelle insgesamt deutlich mehr Fragen, als ich Antworten geben kann. So gesehen, ist es definitiv kein Lehrbuch (siehe eingangs das Wittgenstein-Zitat). Anders als Wittgenstein hoffe ich aber, dass schließlich für Sie ein roter Faden erkennbar wird, auch wenn Sie solche oder ähnliche Gedanken doch noch nicht hatten.

      Wie sehen die Schritte entlang dieses Fadens nun konkret aus? Am Anfang stehen theoretische und praktische Überlegungen zur Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur. Ausgangspunkt sind dabei konkrete Erfahrungen aus meiner Berufswelt und die konkreten Anforderungen der Finanzaufsichtsbehörde BaFin an die Etablierung einer „angemessenen RisikoKultur“ in Kreditinstituten. Danach spüren wir möglichen Gründen nach, warum wir falsche Entscheidungen treffen. Zur Sprache kommen im dritten Kapitel u. a. menschliche Daseinserfahrungen wie Angst, Scham und Schuld. Diese Erfahrungen können zu Quellen falscher Sätze werden, wenn wir in unserem Leben damit nicht reflektiert umgehen, sondern sie verdrängen. Einer der Ausgangspunkte ist dabei die Erfahrung existenzialer Angst, wie sie Martin Heidegger sehr eindrücklich beschrieben hat.3 Diese „ontologische“ Erfahrung der Angst4 – der Erfahrung des Nichts und der möglichen Nichtigkeit meines Lebens – differenziert sich in viele unterschiedliche Formen der Furcht, die meine Mentalität prägen können. Entscheidungskompetenz setzt voraus, dass wir mit der Angst umzugehen lernen – das ist das Wesentliche für ein Umdenken mit dem ethischen GPS.

      Nachdem wir einige praktische Entscheidungshilfen kennengelernt haben, sind wir bereit zum offenen Dialog mit anderen. Eines der Scharniere „vom Ich zum Wir“ ist dabei das Ideal des herrschaftsfreien Diskurses im Sinne von Jürgen Habermas. Dabei bleiben wir realistisch und erkennen, dass es in der Praxis wenigstens einen relativ herrschaftsfreien Diskurs geben kann. Durch diesen Diskurs können „Menschen guten Willens“ beispielsweise ethische Vernunft-Prinzipien erarbeiten und gemeinsame Ziele anstreben, die gut, wahr und notwendig sind: die UN-Menschenrechtskonvention (1948), die zehn Prinzipien der UN-Global-Compact-Initiative für Unternehmensführung (1999), die sechs UN Principles for Responsible Investment (PRI) 2006, die 2015 erneuerten UN Sustainable Development Goals (SDGs): 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung für 2030; das von 195 Staaten verabschiedete Pariser Klimaschutzabkommen 2015 und die 2015 erneuerten 13 Prinzipien für (ethische) Unternehmensführung des Basel Committee on Banking Supervision (BCBS) usf. Doch wieder können wir bei den Prinzipien und Zielen nicht stehenbleiben. Weiterführender Dialog muss klären, wie sie in konkreten Situationen anzuwenden sind und durch welche Maßnahmen diese Ziele erreicht werden können. Das konkrete Begehen all dieser Entscheidungs- und Handlungswege – seien es berufliche oder private – erfolgt wirklich auf eigene Gefahr. Denn es gibt, wie gesagt, trotz der guten Prinzipien und der offenen Diskurse keine garantierten Erfolgsrezepte. Letztendlich werden wir bei der Umsetzung von Zielen besser vorankommen, wenn entlang der Wege die Einsicht wächst, dass unser ethisches GPS stets im Modus des Hinhörens und Suchens operieren muss.

      1.

      Entwicklung einer ethischen Unternehmenskultur

      Was hat Theologie eigentlich mit Unternehmensberatung zu tun? Damit meine ich nicht etwa eine Frage nach der theologischen Begründung einer Unternehmensethik, sondern wie sich die persönliche Glaubenshaltung von christlichen Theologen in der Ethik-Beratung ausdrücken kann. Welche Bedeutung hat die theologische Sichtweise für meine Frau und mich in unserer unternehmerischen Ethik-Beratung5?

      Unsere Aufmerksamkeit gilt nicht zuallererst dem „abstrakten Unternehmen“ an sich, sondern all den Menschen, die dort arbeiten. Wir sehen immer den „ganzen Menschen“ als Person mit unantastbarer Würde und der freien Möglichkeit zur Mitgestaltung einer allen Menschen gemeinsamen Wirklichkeit, insbesondere der Arbeitswelt. Es ist eine menschenfreundliche und wohlwollende Anthropologie: Jede Person soll sich – individuell und doch ungetrennt von den Mitmenschen – entfalten können und dabei auch die Entwicklungsmöglichkeiten der Mitmenschen unterstützen und fördern unter den Aspekten Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Beständigkeit. Den Daseinserfahrungen von Angst, Scham und Schuld setzen wir die Erfahrungsmöglichkeiten von Lebensfülle, mitmenschlicher Nähe, Liebe und persönlicher Würde sowie die Möglichkeit zu Umkehr und Dankbarkeit und schließlich auch die Annahme der eigenen Unvollkommenheit gegenüber.

      Als Theologen wecken wir das Bewusstsein für die Endlichkeit der Person – die aber stets unzureichende Rechtfertigung für Nihilismus oder Egozentriertheit bleibt. Als Ethics Counselors erinnern wir an die individuelle und gemeinsame Verantwortung gegenüber den Ressourcen der Biosphäre, die wir nicht nur für uns, sondern auch für künftige Generationen kultivieren müssen. Wir plädieren für die Notwendigkeit einer diskursbasierten Ethik zur gemeinsamen Entscheidungsfindung in Unternehmen zwecks Gestaltung einer nachhaltigen und gerechten Gesellschaft. Wir ermutigen durch Wort und Tat zur bleibenden Hoffnung auf eine bessere Zukunft auch angesichts ungerechter sozialer Strukturen: für die Hoffnung der Armen und Unterdrückten auf Befreiung. Wir haben Verständnis für die bleibende personale Unvollkommenheit und die Widersprüchlichkeiten des Daseins: Fehlentscheidungen können passieren. Umkehr und Neuanfang sind aber immer wieder möglich – und die „Vergebung“ von Fehlentscheidungen der anderen wird nachdrücklich empfohlen.

      Als Theologen anerkennen wir die Pluralität, Eigengesetzlichkeit und Selbstorganisation und Evolution (Autopoiesis) der gesamten Wirklichkeit, die wir als Eine begreifen – die sich nicht eindeutig in Subjekt und Objekt oder Ich, Du und Es zerlegen lässt. Denn jede Person lebt vernetzt mit anderen in-der-Welt: Andere Weltanschauungen nennen diese Sichtweise alternativ „ganzheitlich“, „systemisch“ oder „integral“. Die eine Wirklichkeit aber entsteht durch das Wechselspiel mannigfaltiger Teilsysteme mit unterschiedlichen Prinzipien und Zielen und lässt sich nicht widerspruchsfrei in diese auflösen. Daher müssen persönliche ethische Navigationskompetenz und Diskursfähigkeit eingeübt werden, sodass eine Unterscheidung nicht nur zwischen richtig und falsch, sondern auch von gut und besser gelingen kann.

      Als Theologen warnen wir aber auch vor den Gefahren der menschlichen Hybris (= Überheblichkeit und Selbstüberschätzung) und persönlichen Unaufrichtigkeit: Denn die je eigene Wirklichkeitskonstruktion ist nicht vollständig überschaubar und steuerbar; sie ist nicht wirklich die Wirklichkeit. Vollkommen alleine kann es die Einzelperson nicht schaffen, nur gemeinsam mit anderen wird eine bessere Wirklichkeit gelingen können. „Ich“ kann ohne „Du“ und „Wir“ weder wahrhaft „menschlich“ leben noch etwas Gutes gestalten. Das um sich selbst kreisende Ich, das egoistische Ego, verbleibt in einem Zustand der Selbstentfremdung und Unaufrichtigkeit (mauvaise foi, siehe Kapitel 2.6), der die eigene Daseinsentwicklung und Selbststeuerung wesentlich einschränkt, das Gewissen unterdrückt und die Dialogfähigkeit mit anderen behindert.

      Ebenso klar sagen wir: Märkte, Unternehmen und Organisationen sind keine ethosfreien Räume. Ökonomie ohne ethisches Bewusstsein ist inhuman. Und gegenüber einem radikal-konstruktivistischen Ansatz betonen wir einen Daseinsvollzug, der sich seiner bleibenden Vorläufigkeit, Unvollständigkeit und „Modellhaftigkeit“ bewusst bleibt, aber dennoch auf Erlösung hoffen darf (aber eben nicht auf „Selbsterlösung“). Um der eigenen Selbstverzweckung und Unaufrichtigkeit vorzubeugen, muss der Lebensvollzug stets offen bleiben innerhalb eines Horizonts, der größer ist als alle Entwürfe und Wirklichkeitsdeutungen. Wir fordern zur Transzendenzbereitschaft auf und zum Deuten der „Zeichen der Zeit“. Auch bemühen wir uns um eine zeitgemäße und existenziell tragfähige Verhältnisbestimmung von Vernunft


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