Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer

Warum wir an falsche Sätze glauben - Michael Neumayer


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Normen würden nicht den Spielraum ermöglichen, der nötig ist, damit die inneren Einstellungen und Haltungen kultiviert werden können. Kulturentwicklung kann nicht einfach „verordnet“ und bloß „reguliert“ werden. Kultur muss wachsen können.

      Der Unterschied zwischen Prinzip und Regel lässt auch anschaulich anhand des Schachspielens erklären. Die Spielregeln des Schachs bestimmen beispielsweise die konkreten Zugvorschriften der Figuren. Andere Regeln betreffen Details wie die Schwarz-Weiß-Struktur der 8 × 8 Felder des Spielfeldes, die Eröffnungsregel „Weiß beginnt“ oder – im weiteren Sinne – den Ablauf eines Schachturniers. Doch wie kann ich in einer konkreten Spielsituation den besseren Zug für mich herausfinden? Die Schachregeln legen zwar eindeutig alle Zugmöglichkeiten fest, liefern aber keinen weiteren Hinweis darauf, wie ich spielen soll. Dann ist die entscheidende Frage: Welcher ist der bessere Zug? Dass ich meinen Turm nicht diagonal ziehen darf, ist weniger relevant als die Frage, ob der Turm überhaupt zum Einsatz kommen soll und gegebenenfalls wie. Spielstrategien sind prinzipienbasiert. Ein Grundprinzip könnte lauten: Tausche keine Figur höherer Wertigkeit – beispielsweise die strategisch wichtige Dame – gegen eine Figur geringerer Wertigkeit – etwa gegen einen Bauern. Doch es ist nicht sinnvoll, dieses Prinzip in jeder Situation sozusagen vollautomatisch anzuwenden. Ein Damenopfer könnte notwendig sein, um im nächsten Zug das Schachmatt zu verhindern. Man spricht von einem „Qualitätsopfer“, wenn durch einen Tausch die strategische Stellung vorteilhafter wird. Manche Strategien spiegeln die Erfahrungen von häufig gespielten Partien wider – beispielsweise die bewährten Zugabfolgen der sogenannten „Eröffnungen“.

      „Spielprinzipien“ sind also situationsabhängig zu interpretieren. Schachspieler lernen Partien auswendig und üben mit ihrem Trainer oder Computer. Durch eine komplexe Mischung aus kombinatorischem Vorausdenken, Spielerfahrung und Intuition wird es möglich, eine Stellung zu analysieren, um so schließlich (hoffentlich) den besseren Zug herausfinden zu können. Das Schachspiel hat nur wenige Regeln – und doch gleicht eine Partie kaum jemals exakt der anderen. Computer schlagen zwar inzwischen die weltbesten Spieler, aber die Frage, ob es eine optimale Gewinnstrategie gibt, ist in der Theorie noch unbeantwortet.18 Das ist ein interessantes Phänomen: Auch aus wenigen einfachen Regeln kann eine sehr komplexe Wirklichkeit entstehen.

      Wie aber finden wir uns in einer vielfältigen Wirklichkeit zurecht – wie orientieren wir uns in ihr? Und wie das Schachspielen ist die prinzipienbasierte Risiko-Kultur in der Praxis mehr als eine bloße automatische Anwendung von Regeln. Gesetzliche Vorgaben und Normen spannen einen weiten Raum von unternehmerischen Handlungsmöglichkeiten auf. So wird es möglich, im ersten Schritt richtige von falschen Möglichkeiten unterscheiden zu können. So darf ich meine Figur ziehen – und so nicht! Für die weiteren Schritte aber geben Prinzipien und Erfahrungen Orientierungshilfen. Denn im Sinne der RisikoKultur angemessen zu handeln und zu entscheiden ist nicht ein vollautomatischer Vollzug von Vorschriften, sondern die Kunst und Fertigkeit, die Prinzipien situationsbedingt interpretieren und ihnen möglichst umfassend entsprechen zu können. Der bessere Schachspieler kennt nicht die Regeln besser, sondern hat bessere Ideen für seine Spielzüge. Und diese Ideen verbessern sich durch Übung und reflektierte Spielerfahrung.

      Wie sich Angestellte und Führungskräfte einer Bank persönlich entscheidungsfit machen können, wird ausführlich in den Kapiteln 3 und 4 erklärt. Denn schließlich wollen die MitarbeiterInnen nicht nur nichts Unrechtes oder Falsches tun, sondern wie beim Schachspielen unter den (vielen) guten Handlungsmöglichkeiten die bessere herausfinden. Eine nachhaltige Entwicklung der Unternehmenskultur wird aber nur gelingen, wenn sich wirklich alle Mitarbeiter dafür engagieren und die Geschäftsleitung nicht nur klare Vorgaben macht, sondern sich auch selbst deutlich wahrnehmbar um eine Risiko-Kultur bemüht, die von Verantwortung, Vertrauen, Integrität und Transparenz geprägt ist. Ein Spiel soll Freude bereiten. Wer spielt schon Schach, wenn es ihm keinen Spaß macht? Und auch die Entwicklung der Unternehmenskultur sollte nicht nur als unumgängliche Erfüllung von aufsichtsrechtlichen Anforderungen gesehen werden. Freude an den gemeinsamen Herausforderungen und an der Möglichkeit der Mitgestaltung sollte auch dabei sein.

      Lassen Sie uns einen kritischen Blick auf einen „Gegenentwurf“ zum diskursiven Ethik-Ansatz werfen, bevor dieser detaillierter beschrieben wird. Dieser Gegenentwurf ist eine idealisierte Pflichtethik, eine ideale normative Ethik. Es ist ein ethisches System, das ethische Situationen durch die Anwendung von Grundprinzipien immer entscheiden kann und keine Ausnahmen duldet. Ein solches ethisches System verpflichtet, die als richtig erkannte Handlung umzusetzen, es fragt nicht zusätzlich noch einmal nach den möglichen Konsequenzen der Anwendung der Prinzipien.

      Es ist ein Gedankenexperiment: Könnte es einen solchen „ethischen Autopiloten“ tatsächlich geben? Ein auf ethischen Pflichtregeln beruhendes deontologisches System (deon, griechisch = Pflicht, Erforderliches) ist jedoch stets mit drei grundsätzlichen Schwierigkeiten konfrontiert, denen sowohl theoretisch als auch praktisch nur schwer beizukommen ist. Es sind die drei unangenehmen Fragen nach (1.) der Widerspruchsfreiheit der verwendeten ethischen Begriffe sowie (2.) der Konsistenz und (3.) der Vollständigkeit des ethischen Systems. Erstens könnte ein ethischer Begriff oder ein ethisches Prinzip schon in sich selbst widersprüchlich sein.19 Ist beispielsweise der Begriff des „unbeabsichtigten Kollateralschadens“ im Rahmen des Prinzips der Doppelwirkung20 wirklich gänzlich ohne ethischen Widerspruch in sich? Ist beispielsweise der Tod unschuldiger Zivilisten – das wäre der unbeabsichtigte „Kollateralschaden“ – im Rahmen von Angriffen mit Drohnen auf (mit hoher Wahrscheinlichkeit positiv identifizierte) terroristische Ziele ethisch bedenkenlos? Kann man die Anwendung des Prinzips der Doppelwirkung ethisch rechtfertigen, wenn es schließlich sogar mehr tote Zivilisten als Terroristen gibt? (Kann man überhaupt mit Zahlen argumentieren, wenn es um Menschenleben geht?) Maschinen errechnen Wahrscheinlichkeiten, doch Menschen haben die Letztverantwortung für den Angriff. Berichte über an solchen Angriffen beteiligte Soldaten legen nahe, dass zumindest einige von ihnen mit dieser Verantwortung (nachträglich) nur sehr schwer umgehen können. Ihr Gewissen macht ihnen zu schaffen. Diese Gewissensbisse sind ein ernstzunehmender Hinweis auf ein ethisches Dilemma. Zugegeben: Wenn das „Prinzip der Doppelwirkung“ von unbeabsichtigtem Schaden spricht, ist damit ein weder beabsichtigter noch vorhersehbarer Schaden gemeint. Die Praxis sieht freilich anders aus: Mit der Möglichkeit des zivilen Kollateralschadens wird bei den Drohnenangriffen durchaus gerechnet, denn die Spionagesatelliten identifizieren ihre potentiellen militärischen Ziele eben meist nur mit einer Wahrscheinlichkeit, die kleiner als 100% ist. Bereits das sprichwörtliche „das Mittel heiligt den Zweck“ ist ein fraglicher Grundsatz. Widerspricht das Mittel dem eigentlichen Zweck, wird schließlich die gesamte Handlung doch nichts dauerhaft Gutes hervorbringen können. Wenn ich Einkommenssteuer hinterziehe und mit diesem Geld eine Stiftung gründe – wird die Steuerfahndung dann ein Auge zudrücken? Auch Prinzipien wie „die Mehrheit entscheidet“ oder „die Bedürfnisse vieler haben Vorrang vor den Bedürfnissen weniger“ können durchaus kritisch hinterfragt werden. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass auch Mehrheiten mehrheitlich irrten (aktuelles Beispiel: Brexit). Und der Vorrang der Bedürfnisse von vielen ist durchaus fraglich, wenn es um Entscheidungen über Leben oder Tod geht. Kurz: Beim Aufstellen eines ethischen Systems ist sorgfältig zu bedenken, inwiefern nicht schon das einzelne Prinzip in sich widersprüchlich ist bzw. wo die Grenzen seiner sinnvollen ethischen Anwendung verlaufen. Viel Gespür und Erfahrung ist also bei der Erarbeitung und beim Diskurs ethischer Prinzipien notwendig, denn auch ethische Prinzipien können falsche Sätze sein!

      Zweitens muss mit der Möglichkeit der Inkonsistenz eines ethischen Systems gerechnet werden: Die ethischen Prinzipien könnten untereinander widersprüchlich sein. Ein ethischer Satz könnte einem anderen widersprechen. Und dieser Widerspruch könnte nur sehr schwer auszumachen sein. Konsistenz a priori gibt es leider nicht: Wie aber kann der Nachweis gelingen, dass die ethischen Prinzipien eines komplexen Systems – z. B. eines Ethik-Kodex – konsistent sind? Bei alltagstauglichen ethischen Kodizes wird ein formaler Nachweis wohl nur schwer gelingen. Daher sollte man in der Praxis die Möglichkeit des Auftretens von Widersprüchen


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