Warum wir an falsche Sätze glauben. Michael Neumayer

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Ethik-Verständnis ist auch immer kulturell mitgeprägt: Wie sollen die Mitarbeiter eines Unternehmens mit dieser Vielfalt umgehen? Wie sollen die Prinzipien im Einzelfall angewandt werden? Die vielen Vorschriften können aufgrund der Komplexität der Rechts- und Wirtschaftsstrukturen durchaus auch widersprüchlich sein.21 Wie könnte ein „ethischer Autopilot“ solche widersprüchlichen Umstände jemals bewältigen und entscheidungsfähig sein?

      Drittens muss mit der möglichen Unvollständigkeit des ethischen Systems gerechnet werden: Nicht jede Situation kann dann mithilfe der Grundprinzipien entschieden werden. Wenn das System unvollständig ist, kann die Frage „Darf ich jetzt so handeln oder nicht?“ also nicht immer beantwortet werden. Die mögliche Unvollständigkeit ist in der Praxis sehr unangenehm. Wie kann ich ein unlösbares, ethisch außer-kontextuelles Problem („outside context problem“ = O. C. P.) von einem prinzipiell lösbaren, aber leider sehr komplexen Problem unterscheiden? Nehmen wir beispielsweise Immanuel Kants berühmten Satz, „dass die Lüge gegen einen Mörder, der uns fragte, ob unser von ihm verfolgter Freund sich nicht in unser Haus geflüchtet, ein Verbrechen sein würde“22. Ich würde also ein Verbrechen begehen, wenn ich einen Mörder anlügen würde, um meinen Freund vor ihm zu schützen? Ist dies „bloß“ eine komplexe ethische Situation oder tatsächlich ein unlösbares O. C. P., weil Kants absolutes Wahrheitsprinzip diese fragliche Situation nicht mehr ethisch sinnvoll erfassen kann? Oder ist der Kant’sche Wahrheitsanspruch (= Verbot der Notlüge in allen Situationen) bereits in sich widersprüchlich? Meine eigene Auffassung ist, dass Kant auch im Falle dieses extremen Beispiels, welches das Gewissen im Ernstfall zweifellos extrem belasten würde, keine Ausnahme zulassen konnte, weil er keine überzeugenden Kriterien fand, um eine Ausnahme zu rechtfertigen. Und eine Ausnahme ohne Begründung hätte das ganze System zum Einsturz gebracht. Kant wollte den Vorwurf der Willkür unter allen Umständen vermeiden.

      Wie auch immer: Ein deontologisches System kann den drei Fragen nach der inneren Widersprüchlichkeit der Prinzipien sowie der System-Konsistenz und System-Vollständigkeit nicht ausweichen. Die Detailüberlegungen des Gedankenexperiments zeigen: Es gibt keine praxistauglichen „ethischen Autopiloten“, die mit der ganzen Vielfalt an komplexen und mitunter auch widersprüchlichen ökonomischen Fragestellungen umgehen könnten. Eine ausschließlich auf Regelvollzug basierende ethische Praxis ist für die komplexen Entscheidungs-Anforderungen eines Unternehmens nicht flexibel und weitreichend genug.

      Mögliches Ethik-Verständnis spiegelt sich in einem breiten Spektrum an philosophischen Konzepten praktischen Handelns. Wie wir gesehen haben, lassen sich unternehmerische Entscheidungsprozesse nicht gut mit ethischen Autopiloten steuern. Ein diskursiver Ethik-Ansatz hingegen sollte ManagerInnen dabei helfen, freier und souveräner bessere Entscheidungen treffen zu können. Eine dialogfähige Unternehmensethik schränkt Handlungsmöglichkeiten nicht nur ein, sondern zeigt neue Perspektiven auf, die auch ökonomisch sinnvoll und angemessen sind. Dann wird sich ein Unternehmen umso engagierter und nachhaltiger für die Realisierung seiner Grundwerte einsetzen.23 So wird eine unternehmerische Ethik-Kultur und Risiko-Kultur möglich, bei der das Ökonomische dem Ethischen nicht im Wege steht und umgekehrt. Denn keinesfalls soll die Ethik unter die Voraussetzung wirtschaftlicher Nützlichkeit geraten. Dann wäre die Ethik-Kultur nur ein äußerliches Etikett, wie das auf eine Zitrone nachträglich aufgeklebte „Bio-Zertifikat“.

      Welche anderen wesentlichen Vorteile hat der ethische Diskursansatz? Im Rahmen eines offenen Dialogprozesses können ethische Prinzipien vorurteilsfrei(er) diskutiert und vernünftig begründet werden. Widersprüchliche Prinzipien oder fragwürdige Werte können so besser aussortiert werden. Auch die „ethische Reichweite“ der Grundsätze oder die Behandlung von Sonderfällen oder Widersprüchen können vorab diskutiert werden. Da falsche Grundsätze auch sehr gefährlich und destruktiv sein können, bevor sie von der Wirklichkeit eingeholt werden, ist es sinnvoll, zu versuchen, sie im Voraus zu erkennen und abzulehnen. Falsche Begriffe, falsche Sätze und falsche Ideen können auf dem freien Marktplatz – Areopag24 und Speakers Corner25 – des vernünftigen und demokratischen Diskurses erörtert und entlarvt werden. Daher können die ethischen Grundprinzipien und Regeln manchmal auch selbst zur Disposition stehen. Diskursethische Prozesse müssen die Möglichkeit vorsehen, auch ihre eigenen Grundannahmen kritisch hinterfragen zu können. Kein Prinzip darf absolut gesetzt sein. Gegebenenfalls müssen Regeln modifiziert oder durch passendere ersetzt werden. Ein gutes Beispiel sind medizinethische Prinzipien, die vom gentechnischen Fortschritt immer wieder „überholt“ werden. Mit der Schachmetapher gesprochen: Wir müss(t)en erlauben, die Schachregeln zu ändern, um in der Partie weiterzukommen. Das ist beim traditionellen Schachspiel aber leider nicht möglich. Die Vorteile einer solchen Möglichkeit sind aber offensichtlich.

      Eine diskursfähige Ethik-Praxis kann auch Widersprüche und (zunächst) unlösbar erscheinende Situationen „diskutieren“ und durcharbeiten. Auch erhebt der diskursive Ethik-Ansatz nicht den Anspruch auf Vollständigkeit: Gerade unvorhergesehene und verwickelte Situationen fordern zu neuer und kreativer Lösungsfindung per Dialog heraus. Bessere Lösungen ergeben sich demnach nicht alleine aus den Grundprinzipien, sondern aus der gemeinsamen Erörterung und einem Entscheidungsfindungsprozess, der offen bleibt für Entwicklungen, die über die ursprünglichen Prinzipien hinausgehen. Nicht immer sind die Lösungen eindeutig oder klar, manchmal wird es notwendig sein, „etwas zu wagen“ und Neuland zu betreten. Daher sollten Unternehmer erst gar nicht versuchen, eine Meta-Ethik zu konstruieren („one shoe doesn’t fit all“). Unternehmerische EthikPraxis besteht im individuellen und gemeinsamen Durcharbeiten der unterschiedlichen ethischen Situationen. Wichtig ist, dass diese Lösungen innerhalb eines offenen Dialogprozesses gefunden werden. So wird einem ethischen Subjektivismus und der Dominanz von Vorurteilen vorgebeugt. Gemeinsam können dann auch Lösungen für „Ausnahmesituationen“ oder Widersprüche gefunden werden, die ein rein deontologischer Ansatz nicht mehr findet oder zulässt. Die Vorteile einer diskursiven Ethik sind also durchaus vielversprechend.

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