Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
Aussagen über die Wirklichkeit zu machen, zu ihrem Wesen oder ihrem Grund vorzustoßen. Umgekehrt gesagt: Die Wirklichkeit, sogar die leblose materielle, ist nicht auf das, was die Naturwissenschaften von ihr sagen, zu reduzieren. Als ein Wesen, das mit Blick auf zu erreichende Ziele handelt, sieht der Mensch die Wirklichkeit anders denn als ein Wesen, das sie in neutraler Distanz zu ihr betrachten und beschreiben möchte, und man kann nicht sagen, daß die erste, praktische Perspektive falsch wäre oder minderwertig im Vergleich zur zweiten, theoretischen, diese also die einzige richtige oder zumindest jener überlegen wäre. Technik und Ethik sind irreduzible Perspektiven auf die Wirklichkeit, die nicht weniger als die Wissenschaft Wahrheit erschließen, wenngleich eine andere Wahrheit als die wissenschaftliche. Leider verkennt Mutschler wie Kant, dessen Konzept von Vernunft sich im Denken Mutschlers widerspiegelt, daß die Naturwissenschaft, von der er zugibt, daß sie keine Aussagen über den Grund der Wirklichkeit machen kann, nicht die einzige theoretische Perspektive auf die Wirklichkeit ist. Es ist möglich, a priori Aussagen über das endliche Seiende und somit über die Natur, Aussagen über das, was sie ist, zu machen. Es ist aufgrund von Aussagen über das endliche Seiende als solches, näherhin durch eine Analyse der Tatsache der Veränderung, daß die Bejahung des Daseins Gottes möglich ist. Zu ihr ist die theoretische Vernunft nach Mutschler nicht in der Lage. Diese seine Auffassung ist die logische Konsequenz seiner Identifikation der theoretischen Vernunft mit der modernen Naturwissenschaft, von der Kant mit Recht bemerkte, daß sie über die Gottesfrage nichts sagen kann. Diese ist für Mutschler wie für Kant im Anschluß an die Frage nach dem Sinn des menschlichen Daseins zu entwickeln und somit eine Sache der praktischen Vernunft. Kants Theologie, für die die Existenz Gottes ein Postulat der praktischen Vernunft ist – der Sinn des menschlichen Daseins läßt sich nur unter der Voraussetzung, daß ein Gott ist, denken –, wird niemanden vom Dasein Gottes überzeugen, es sei denn, die kantische Perspektive werde ergänzt um die Suche nach bzw. den Aufweis von Anzeichen jenes Sinnes, den der Mensch seiner Existenz nicht geben kann, in der Geschichte. Für die heilige Schrift ist die geschichtliche Offenbarung Gottes, die zugleich als eine Offenbarung des Sinnes des menschlichen Daseins verstanden werden kann, kein Beweis der Existenz Gottes.
Nagel erkennt, daß der Mensch strebt nach einem Ziel, das er aus eigener Kraft nicht erreichen kann, weigert sich aber, die Möglichkeit eines theologischen Ausweges aus dieser Aporie in Betracht zu ziehen. Nagel ist vor allem dadurch bekannt geworden, daß er seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Irreduzibilität von Subjektivität auf Objektivität, von Bewußtseinsphänomenen auf materielle Prozesse, wie sie von den modernen Naturwissenschaften beschrieben werden, ins Licht gehoben und schließlich zum Ausgangspunkt einer Kritik dieser Wissenschaften und besonders der „neodarwinistischen“ Version der Evolutionstheorie gemacht hat. In den vergangenen Jahren hat Mutschler auf ähnliche Weise oft die Aporien, in die eine sich materialistisch nennende Ontologie, für die das Ganze der Wirklichkeit „nichts als Materie“ und naturwissenschaftlich erklärbar ist, sich verstrickt, benannt. Wenn Nagel darauf hinweist, daß eine vom Mentalen bzw. Geistigen abstrahierende Naturwissenschaft die „Bewußtseinsphänomene“ – Denken, Begehren, Sehen, Fühlen usw. – nicht erklären kann, scheint er aber stillschweigend anzunehmen, daß sie die anorganische Natur hingegen sehr wohl erklären kann. Daß letzteres nicht der Fall ist, wußte Wittgenstein schon. Die Naturwissenschaft bietet keine Erklärung, sondern eine Beschreibung von Sachverhalten oder Ereignissen. Die Tatsache, daß kein Ereignis logisch bzw. ontologisch aus seinen Antezedenzien abgeleitet werden kann, ist eine der grundlegenden Voraussetzungen der modernen Naturwissenschaft als einer empirischen Wissenschaft. Es ist die Voraussetzung, aufgrund der die Naturwissenschaft sich dazu genötigt sieht, alle ihre Aussagen in der Konfrontation mit der Sinneserfahrung zu prüfen. Die Kontingenz des Endlichen und somit des Materiellen ist dem 2005 verstorbenen Jesuitenpater Béla Weissmahr durch seine Ausbildung, durch die er sich mit der Philosophie und Theologie der Neuscholastik vertraut gemacht hat, bekannt, aber in seinen Texten über Gottes Wirken in der Welt betont er das gleichwohl gottgegebene Vermögen des Geschöpfes, selbst tätig zu sein und dabei Neues hervorzubringen. Weissmahr möchte auf diese Art und Weise die Entwicklung des Kosmos, die Evolution des Lebens und sogar die Entstehung der Menschenseele als ein von Gott getragenes „eigenes“ Werk des geschaffenen Seienden denken, mißt u.E. aber der Tatsache, daß das endliche Seiende aus sich selbst heraus nichts vermag, nicht die gebührende Bedeutung bei.
Die Auseinandersetzung der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft findet auf sehr unterschiedlichen Ebenen statt. Ein Beitrag Kardinal von Schönborns in der New York Times vom 7. Juli 2005 über die „neodarwinistische“ Version der Evolutionstheorie, die kirchliche Position zu ihr und die Frage nach Finalität und Zufall in der Natur bekam viel Aufmerksamkeit und löste eine breite Diskussion aus, aber ein Zeitungsartikel eines weder naturwissenschaftlich, noch philosophisch ausgewiesenen Theologen, der über das Verhältnis zwischen Schöpfungslehre und Evolutionstheorie nur einige inhaltlich austauschbare Artikel veröffentlicht hat und dabei die Auseinandersetzung mit der Fachliteratur weitgehend scheut, kann kaum die Grundlage einer differenzierten Diskussion über die in Frage stehende Angelegenheit auf der ihrer Komplexität angemessenen, akademischen Ebene sein9. Unsere Analyse der Arbeit Hellers, Mutschlers, Nagels und Weissmahrs gibt den aktuellen Stand der Diskussion der Theologie mit der modernen Naturwissenschaft auf höchstem denkerischem Niveau wieder. Die Diskussion ist nicht bei der Bestätigung der Kompatibilität von Naturwissenschaft und Theologie und der Möglichkeit der friedlichen Koexistenz beider stehengeblieben10. Mutschler und Nagel widerlegen die Ansicht, die Naturwissenschaft, insbesondere die Physik, sei zu einer umfassenden Beschreibung und Erklärung der menschlichen Wirklichkeitserfahrung in der Lage. Wie bereits angedeutet, können wir aber nicht bei den Ergebnissen der Arbeit der vier genannten Autoren stehenbleiben. Sie verfehlen die Möglichkeit, nachzuweisen, daß die theoretische Vernunft qua Suche nach einer Erklärung der sich zeigenden Wirklichkeit die Gottesfrage entdecken und positiv beantworten kann. Heller, Mutschler und Nagel verkennen die Bedeutung der Metaphysik, die die Seienden, ja das Sein überhaupt problematisiert; Weissmahr hat zwar ein „Handbuch“ zur Ontologie verfaßt, verpaßt aber wie die drei anderen die Chance, zu zeigen, daß das Endliche, somit das Universum, nur durch einen transzendenten Seinsgrund, dessen Wirklichkeit sich dem Denken aufdrängt, erklärt werden kann. Ein solcher Aufweis, der in der Diskussion mit den Vertretern des neuen Atheismus von entscheidender Bedeutung ist, findet sich im Schlußkapitel des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit. In diesem Kapitel wird auch die Irrelevanz der modernen Naturwissenschaften und ihrer Ergebnisse für die Gottesfrage aufgezeigt.
Es bildet den Übergang zum dritten Teil, in dem wir auf der Grundlage der in den zwei vorausgehenden Teilen erarbeiteten Einsichten einige im interdisziplinären Gespräch zwischen Naturwissenschaft und Theologie oft gestellte Fragen aufgreifen und systematisch zu beantworten suchen. Nachdem wir die epistemische Tragweite der modernen Naturwissenschaften erkundet haben, zeigen wir, daß sie die Bejahung des Daseins Gottes nicht ausschließen, sondern – wie das Selbst- und Gegenstandsbewußtsein des Menschen überhaupt – gerade einen Weg zu ihr eröffnen. Der Diskussion von Physikalismus und Materialismus, der Widerlegung der Ansicht, die Naturwissenschaft sei zu einer Totalerklärung dessen, was sich dem Bewußtsein aufdrängt, imstande und die Wirklichkeit lasse sich auf das, was sich naturwissenschaftlich beschreiben läßt, reduzieren, folgt eine Untersuchung der Bedeutung „der Evolutionstheorie“ für die christliche Lehre über Gott und die Schöpfung. Dabei wird auch auf die Frage nach dem möglichen Sinn der Rede von Finalität und Zufall in der Natur eingegangen. Anders als oft gedacht, ist diese Frage – wie die meisten heißen Eisen der Diskussion zwischen Naturwissenschaft und Theologie, etwa das Verhältnis zwischen Freiheit und Determinismus und die Legitimität des Materialismus – keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische Frage, die als solche nicht von der Naturwissenschaft, sondern von der Philosophie beantwortet wird.
Mit dieser Feststellung berühren wir ein wichtiges Ergebnis unserer Arbeit. Das, was man das Gespräch oder gar den Konflikt zwischen Theologie und Naturwissenschaft nennt, ist in der Regel keine Diskussion der möglichen theologischen Relevanz bestimmter naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse, sondern eine Diskussion philosophischer Konzeptionen und sogar populärer Vorstellungen, die von den Naturwissenschaften und ihren Ergebnissen vielleicht suggeriert, aber keineswegs gerechtfertigt werden. Die verbindliche Glaubenslehre über