Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
Sein „Weltbild“ ist also – trotz eines bestimmten Grades an Unkontrollierbarkeit – auf Sinneswahrnehmung und rationales Denkens gegründet. Thales beschäftigte sich nicht nur mit der Entwicklung eines Weltbildes, sondern auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene. Die Geschichte schreibt Thales die korrekte Vorhersage einer Sonnenfinsternis zu. Eine solche Vorhersage ist naturgemäß empirisch überprüfbar. Sie setzt kein globales Weltbild, dafür aber eine gewisse Erkenntnis bestimmter Phänomene voraus, insbesondere die Fähigkeit, die Bewegungen der (oder einiger) „Himmelskörper“ zu berechnen. Wie oben angegeben, gehört diese Art von Erkenntnis zu den frühesten Formen von Naturwissenschaft insgesamt.
Für Thales ist die arché („elementare Materie“ oder „substantiale Materie“) Wasser, für Anaximenes ist sie die Luft. Anaximander hat eine eigentümliche Vorstellung der arché. Sie besteht seiner Ansicht nach nicht in etwas, das als solches in unserer Welt wahrgenommen werden kann. Er bestimmt die arché als das apeiron, das „Unbestimmte”. Es ist nach F. Ricken als der allumfassende Raum zu verstehen. Ricken glaubt, daß Anaximander es wie einen materiellen Körper auffaßt. Das apeiron ist anderer Natur als die Elemente Luft, Wasser und Feuer. Sie kämpfen miteinander, so daß, wenn eines von ihnen absolut gewesen wäre, es die anderen bereits hätte verschwinden lassen. Das apeiron bestimmt alle Vorgänge im Kosmos. Es ist das Göttliche. Alle Dinge kommen aus dem apeiron hervor. Das eine Ding existiert auf Kosten des anderen. In diesem Sinne kommen die Dinge auseinander hervor und es nimmt das eine den Platz des anderen ein. Die Ordnung, die in dieser Weise sich mit der Zeit einstellt, ist gerecht. Die Erde hat die Gestalt eines Zylinders. Die Vorstellung, daß die Welt auf etwas aufruht, wird abgelehnt. Diese Vorstellung ist absurd, denn sie impliziert einen regressus ad infinitum; das, auf dem die Erde aufruhe, ruhte auf etwas anderem auf, dieses auf nochmals anderem usf. Die Erde steht im Mittelpunkt des Kosmos und wird dadurch, daß sie in entgegengesetzte Richtungen (an)gezogen wird, im Gleichgewicht gehalten.
Von der Sinnenerfahrung ausgehend, versuchen die Milesier durch logisches Denken ein rationales Weltbild zu entwickeln. Sie suchen ein Prinzip all dessen, was es gibt (oder was erscheint). Heraklit tut etwas Ähnliches. Er stellt fest, daß es die Gegensätze in der menschlichen Erfahrung – wie Hunger und Sättigung und Nacht und Tag – nur in ihrer gegenwendigen Einheit und durch sie gibt. Es ist genau durch sie, daß die Gegensätze Gegensätze sind. In ihrer untergründigen gegenseitigen Einheit machen sie die Wirklichkeit aus. Das Wesen des Wirklichen ist die Einheit der Gegensätze. Sie haben Sinn, d.h. als solche ist die Wirklichkeit gut, durch die Gegensätze, durch die sie sich konstituiert. Das Positive gibt es nicht ohne das Negative, so daß es ohne Negatives nichts Positives gäbe. Dank dem Hunger ist es möglich, Sättigung zu schätzen. Das Leben ist lebenswert, weil es den Tod gibt. Der Tod polarisiert das Leben und verspricht dem Menschen die Ruhe, nach der er Ausschau hält.
Heraklit möchte die Wirklichkeit nicht nur kennen, sondern sie auch verstehen. Die empirische Erkenntnis ist fragmentarische Tatsachenerkenntnis und verschafft uns somit keine Einsicht. Einsicht ist die Fähigkeit, das Wesen der Wirklichkeit hinter den Erscheinungen zu identifizieren. Heute würden wir sagen, daß Heraklit den Sinn oder die Bedeutung der Tatsachen sucht. Das ist etwas, was die Unternehmung der Milesier vermissen läßt – wie es auch die zeitgenössische Naturwissenschaft ihrem Selbstverständnis nach tut. Aus heutiger Sicht könnten wir Heraklits Denken insofern philosophisch nennen, als es Aussagen über Sein und Sinn der Wirklichkeit als solcher macht, und wir unterschieden Heraklits Denken insofern von der zeitgenössischen Naturwissenschaft, als es im Gegensatz zu dieser nicht primär an der genauen Bestimmung der Ursachen gewisser konkreter Phänomene interessiert ist.
Der Ausgangspunkt des Denkens Heraklits ist die innere Differenziertheit der Wirklichkeit. Im Gegensatz dazu bestreitet Parmenides Möglichkeit und Wirklichkeit von Werden und Veränderung. Er gibt für seine kontraintuitive Position ein logisches Argument. Veränderung ist entweder der Übergang vom Sein zum Nichtsein oder der Übergang vom Nichtsein zum Sein; doch da das Nichtsein nicht ist, ist Veränderung unmöglich. Im Rückblick können wir dieses Denken „metaphysisch“ im aristotelischen Sinne des Wortes oder ontologisch nennen. Wir haben mit einer Aussage a priori über das Sein als solches zu tun. Parmenides’ Unternehmung ist offenbar keine Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Er nimmt noch mehr Abstand von der Sinnenerfahrung als Heraklit.
Der Rationalismus behauptet, daß „der Vorgang der Bewegung oder irgendwelcher anderer Veränderung einen bestimmten Widerspruch beinhaltet: Etwas ist in einem gegebenen Zustand und zugleich verläßt es diesen Zustand“15. Da diese rationalistische These nicht leicht widerlegt werden kann, aber nichtsdestotrotz offensichtlich der Wahrnehmung widerspricht, erhält das Problem der Möglichkeit von Veränderung oder der Beziehung zwischen Sein und Werden nachhaltige Aufmerksamkeit von Denkern nach Parmenides und Heraklit16.
Demokrit führt die Wirklichkeit auf räumlich ausgedehnte, doch physikalisch unteilbare Partikel („Atome“17) ohne weitere Qualitäten in einem leeren Raum zurück. Es gibt keine Veränderung außer der Ortsveränderung der Partikel im Raum. Alle wahrnehmbare Veränderung – einschließlich all dessen, was wir heute „Bewußtseinsphänomene“ nennen – kann auf die Ortsveränderung der Partikel im Raum zurückgeführt werden. Wie die oben erwähnten Positionen Heraklits und Parmenides’ ist Demokrits „Atomismus“ keine naturwissenschaftliche Theorie im heutigen Sinne des Ausdrucks, sondern eine philosophische Position. Demokrit versucht nicht sosehr, eine Erklärung gewisser konkreter Einzelphänomene im Zusammenhang mit anderen konkreten Einzelphänomenen zu entdecken, als vielmehr die Möglichkeit der Veränderung als solcher zu denken. Sein Versuch führt zu dem, was man ontologischen Materialismus nennen könnte. Demokrit sieht keinen Plan hinter den Bewegungen der „Atome“. Sie bilden Konglomerate wie Menschenkörper, aber das Auftreten solcher Konglomerate und ihr anschließendes Sichauflösen entsprechen keiner wie auch immer gearteten Absicht. Demokrits Ontologie ist nicht nur materialistisch, sondern auch mechanizistisch. Sie steht in einem klaren Gegensatz zum teleologischen Denken Platons und Aristoteles’.
Die Pythagoreer nehmen in der vorsokratischen Philosophie einen besonderen Platz ein. Sie „vermuteten als erste, daß die kosmische Ordnung in geometrischen Formen fixiert und darum rational faßbar sei“18. Trotz der Diskrepanz zwischen mathematischen Formen und physikalischer Wirklichkeit – so kann eine Linie mathematisch zwar einen Kreis in einem einzigen Punkte berühren, doch ist dieser Sachverhalt niemals verwirklicht im Physikalischen, wo es etwa den Kontakt zwischen einer Schnur und einer Säule immer nur in räumlicher Ausdehnung gibt – waren die Pythagoreer davon überzeugt, daß die Strukturen der Welt von mathematischen Strukturen bestimmt sind. Zusammen mit der Entwicklung der Mathematik führte die weitergehende Entdeckung von Diskrepanzen zwischen empirischen Tatsachen und a priori-Lehren Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr. jedoch zum Verfall der pythagoreischen Naturphilosophie19. Platon bemerkte, daß die empirisch zugängliche Natur der idealen bzw. ideellen Welt der Mathematik nicht entspricht und „trennte die mit den Sinnen wahrnehmbare veränderliche, materielle Welt, von der nur mit dem Geiste erfaßbaren unveränderlichen, ideellen Welt der mathematischen Formen. Dabei bilden die mathematischen Gegenstände ein Zwischenreich: Im Sand gezogene Kreise oder Querschnitte von Säulen sind Abbilder von eben so vielen verschiedenen mathematischen Kreisen, diese aber ihrerseits Abbilder der einen Idee ‚Kreis‘“20.
Platon unterscheidet zwischen dem Veränderlichen und Materiellen einerseits und dem Unveränderlichen oder den Ideen andererseits, sieht aber eine positive Beziehung zwischen den beiden darin gegeben, daß jenes an diesem „teilhat“ und sein „Abbild“ ist. Nach Platon können wir nur von den Ideen – die das Sein ausmachen – wahre Erkenntnis haben. Er kennt darum keine wahre Erkenntnis – Erkenntnis im wahren Sinne des Wortes – der materiellen Welt oder der Natur. Die Sinnenwelt – die Natur – ist der Gegenstand der „Meinung“. Epistemologisch ist es so, daß, konfrontiert mit dem empirischen Ding, das das Bild ist, wir die Idee, die das Exempel oder der Prototyp ist, erfassen und in ihrem Lichte das empirische Ding. Das Bild wird nur im Lichte des Exempels adäquat erfaßt.
Platons Sicht widerspiegelt sich in Kants Auffassung, daß es Naturwissenschaft im Sinne der Erkenntnis von „Erscheinungen“ gibt, aber keine