Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae


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Phänomene, besonders auf dem Feld der heutigen Statik und Mechanik. Coyne und Heller zeigen, daß Archimedes methodisch wie heutige Physiker arbeitet. Er formuliert Hypothesen und prüft sie, indem er sie experimentell mit der empirischen Wahrnehmung konfrontiert. Die Hypothesen betreffen z.B. Beziehungen zwischen u.a. dem jeweiligen Platz von Körpern, ihrem jeweiligen Gewicht, dem jeweiligen Gewicht der Körper, mit denen sie verbunden sind, und ihrem gegenseitigen Abstand. Naturgemäß werden Hypothesen dieser Art in mathematischer Sprache formuliert, wenngleich nicht in heutiger symbolischer mathematischer Sprache. Archimedes formuliert allgemeine Formeln aufgrund empirischer Wahrnehmungen, die naturgemäß partikular und begrenzt sind. Die Formeln sind demnach Verallgemeinerungen dessen, was durch partikulare Beobachtungen wahrgenommen wird. Weiter kann seine Naturbeschreibung insofern eine Idealisierung der Wirklichkeit genannt werden, als er Sachverhalte, die als solche nicht wahrgenommen werden, beschreibt. Seine Beschreibung ignoriert den möglicherweise störenden Einfluß externer Faktoren auf die beschriebenen Sachverhalte, durch den sie geändert würden. Archimedes’ Naturforschung teilt mit der modernen Physik den Mangel an Interesse fürs jeweilige Wesen der studierten Dinge und das Interesse für ihre meßbaren Eigenschaften.

      Wir erinnern uns, daß in mehreren alten Kulturen die Berechnung der Bewegungen der „Himmelskörper“ schon weit fortgeschritten war. Die auf empirische Wahrnehmung und mathematische Berechnung gegründete astronomische Erkenntnis führte zum Weltbild des Ptolemäus von Alexandrien (2. Jahrhundert n.Chr.)34.

      Aristoteles unterscheidet zwischen der ungezwungenen Ortsveränderung der Erdenkörper und der ungezwungenen Ortsveränderung der Himmelskörper. Die Erdenkörper bestehen aus den vier bekannten Elementen und bewegen sich insofern, als sie ihr Ziel, ihren natürlichen Ort, noch nicht erreicht haben. Die Himmelskörper bestehen aus dem unvergänglichen fünften Element, dem Äther; sie beschreiben gleichförmige Kreisbewegungen ohne Veränderung in der Kurve und ohne Anfang bzw. Ende. Die zweite Art von Bewegung „ist von maximaler Vollkommenheit (Symmetrie), denn die Himmelskörper sind seit jeher am Ziel. Daher ändert sich am Himmel nichts mehr. So gelangt Aristoteles zu einer Zweiteilung des Kosmos in einen supralunaren Bereich der Unveränderlichkeit und darum Vollkommenheit […] und in einen sublunaren Bereich der Wandelbarkeit und Unvollkommenheit […]. Die vollkommene Kreisbewegung der Gestirne ergibt sich also für Aristoteles deduktiv aus ihrem Wesen. Er vergißt aber nicht, seine Deduktion mit der Wirklichkeit zu vergleichen, betont er doch, daß nie jemand eine Änderung der Verhältnisse am Himmel beobachtet habe“35.

      Es erwies sich aber als unmöglich, die aristotelische Weltsicht, nämlich die aristotelische Annahme, daß die Himmelskörper gleichförmige Bewegungen beschreiben, mit der empirischen Wahrnehmung in Einklang zu bringen. Auf der Grundlage der Arbeiten von Leuten wie Apollonios von Perge und Hipparch von Nicäa erarbeitete Ptolemäus ein Weltbild, das die Berechnung und Vorhersage der Bewegungen der Planeten erlaubte. Das Weltbild des Ptolemäus ist „kinematisch“, d.h. es gibt eine mathematische Beschreibung der erwähnten Bewegungen, ohne sie durch den Verweis auf Kräfte zu erklären. In der klassischen Antike gab es andere kinematische Weltbilder. Ein Beispiel davon finden wir bei Aristarch von Samos. Aristarchs Weltbild ist heliozentrisch, das Weltbild Ptolemäus’ ist geozentrisch. Aus kinematischer Perspektive können diese Weltbilder äquivalent genannt werden. Das geozentrische Weltbild wurde aber bevorzugt, weil es keine Hinweise auf eine Bewegung der Erde gab. Ptolemäus’ Weltbild wurde betrachtet als ein bloßes Modell zur „Rettung der Phänomene“, d.h. zur geometrischen Beschreibung dessen, was durch die Sinne wahrgenommen wird, und nicht so sehr als eine Beschreibung des Kosmos, wie er wirklich ist. Das lag teils daran, daß die ptolemäische Sicht wesentlichen Ideen der herrschenden aristotelischen Kosmologie, etwa der Idee der konstanten Geschwindigkeit der Himmelskörper, widersprach. Ptolemäus’ Weltbild hat sich bis zum Ausgang des Mittelalters behaupten können, weil – obzwar es im Laufe der Zeit immer wieder angepaßt werden mußte – es ziemlich adäquat „die Phänomene rettete” und es Menschen erlaubte, die Bewegungen der „Himmelskörper“ zu beschreiben und vorauszusagen.

      Rückblickend auf das, was wir gesehen haben, kommen wir zum Schluß, daß die Haltung der antiken Griechen gegenüber der Rolle der Mathematik in der Naturerkenntnis nicht homogen war. Die meisten Vorsokratiker diskutieren die mögliche Bedeutung der Mathematik für die Naturerkenntnis nicht. Eine Ausnahme bilden die Pythagoreer. Für sie ist die Mathematik eine wahre Beschreibung der Wirklichkeit und als solche a priori gültig. Platon gesteht die Diskrepanz zwischen Mathematik und dem Materiellen. Ihm streitet er die Wirklichkeit im uneingeschränkten Sinne des Wortes ab, während die Mathematik für Platon wahre Wirklichkeit besitzt, weil die Mathematik zum Ideellen gehört. Für Aristoteles mag die Mathematik eine Rolle in der Beschreibung mancher „Akzidenzien“ des (materiellen) Seienden spielen, aber nicht in der Bestimmung seines Wesens. Archimedes erkennt, daß die Mathematik ein Instrument zur Beschreibung von „Sachverhalten“ in der materiellen Welt ist. Dasselbe kann von Ptolemäus gesagt werden. Die Rezeption des Denkens Ptolemäus’ wird aber beherrscht von der Idee, daß Erscheinungen anhand der Mathematik beschrieben werden mögen, sie selbst aber das Wesen der Dinge nicht berührt.

      Wir haben bisher hauptsächlich von der rationalen – philosophischen und/oder wissenschaftlichen – Erkenntnis der „leblosen“ oder anorganischen Natur in der heidnischen Antike, besonders im antiken Griechenland, gesprochen. In dieser Kultur entwickelte sich aber auch rationale Erkenntnis der lebendigen oder organischen Natur.

      Wir haben gesehen, daß zwei Arten rationaler Naturerkenntnis voneinander unterschieden werden können: philosophische Erkenntnis und wissenschaftliche Erkenntnis im modernen und heutigen Sinne des Wortes. Jene ist gegründet auf a priori Einsichten in die Natur des materiellen Seienden als solchen, diese unterscheidet a posteriori Zusammenhänge zwischen konkreten empirischen Fakten oder Erscheinungen (oder Arten derselben). Wir haben festgestellt, daß im Griechenland der heidnischen Antike beide Arten rationaler Erkenntnis der leblosen Natur vorkamen, die philosophische aber überwog. Was in bezug auf die rationale Erkenntnis der leblosen Natur festgestellt wurde, läßt sich auch in bezug auf die der lebendigen Natur sagen.

      Die Aufmerksamkeit Heraklits, Parmenides’ und Demokrits galt primär dem Sein als solchem, so daß in ihrem Denken die empirisch wahrnehmbaren Unterschiede in der Natur wie die Unterschiede zwischen lebendigen und leblosen Seienden keine große Rolle spielten36. Der Hylemorphismus des Aristoteles ist eine philosophische Konzeption des zusammengesetzten Seienden als solchen und kann darum zumindest im Prinzip sowohl auf die leblose als auch auf die lebendige Natur angewandt werden. Aber abgesehen davon, daß er den Hylemorphismus entwickelte, widmete sich Aristoteles auch der empirischen biologischen Erforschung der konkreten Arten der Lebewesen. Seine Weise, die Arten der Lebewesen mit Blick sowohl auf ihre mit anderen geteilten als auch auf ihre je spezifischen, distinktiven Züge zu katalogisieren, ist bis heute ein wichtiger Bestandteil der biologischen Forschung geblieben. Aristoteles kennt die Lehre eines transzendenten Schöpfers der Welt nicht. Für Aristoteles ist die Welt mit ihrer immanenten Ordnung ewig, und die Arten der Lebewesen sind es auch. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begann die moderne Wissenschaft, Abstand vom „statischen“ Bild der lebendigen Natur, das von einer „Evolution der Arten“ nichts weiß, zu gewinnen. Ein „dynamisches“ Bild der Natur bestand jedoch bereits vor Aristoteles37. Die Naturphilosophie des Empedokles (5. Jahrhundert v.Chr.) kann verstanden werden als ein Versuch, das Dilemma, mit dem die entgegengesetzten Positionen Heraklits und Parmenides’ das Denken konfrontiert hatten, nämlich das Dilemma der Beziehung zwischen Sein und Werden oder zwischen der Einheit des Seins und seiner inneren Differenziertheit, zu überwinden. Empedokles identifiziert Erde, Luft, Wasser und Feuer als die vier „Wurzeln“ oder als die letzten Bestandteile des Kosmos. Sie sind nicht geworden, sie ändern sich nicht und sind unvergänglich. Das, was sich ändert, ist ihre Mischung, und mit ihr die Weise, wie sie verteilt sind. Ihre gegenseitige Beziehung wird bestimmt von Liebe und Streit. Durch die Liebe verbinden sie sich miteinander, durch Streit trennen sie sich voneinander. Liebe und Streit gehen endlos ineinander über. So ist der Kosmos dem endlosen zyklischen Prozeß der Amalgamation und Trennung der „Wurzeln“


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