Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
z.B. als dieses oder jenes bestimmte chemische Element, als diese oder jene bestimmte Art von Lebewesen –, werden in der Physik Entitäten und Phänomene erfaßt als das, was sie sind: als Elektronen, Lichtwellen usw. Nach Rombach aber können wir sagen, daß die moderne Naturwissenschaft kraft der ihr zugrundeliegenden Denkform nicht interessiert ist am Sein im Sinne dessen, was für den Menschen wesentlich ist, sondern vielmehr an der Art und Weise, wie in der materiellen Welt eine Entität auf eine andere verweist (z.B. der Art und Weise, wie Energie auf Masse verweist). Als Wissenschaft des Materiellen ist die moderne Naturwissenschaft weniger interessiert an dem, was bleibt, als an dem, was sich verändert, wie Masse und Volumen. Diese Beobachtung wird nicht widerlegt durch den Einwand, daß die moderne Wissenschaft nach den im Prinzip immer und überall gültigen Gesetzen, die die Veränderung bestimmen, sucht. Es bleibt wahr, daß die moderne Wissenschaft nicht an „substanziellem Sein“ welcher Art auch immer interessiert ist – und es dann auch, was kaum überraschen kann, nicht findet.
Die Denkform des Christentums ist (oder war) die Denkform der griechischen Philosophie. Beide suchen insofern das Sein – das, was ist –, als es fürs menschliche Leben wesentlich ist. Ebensowenig wie die griechische Philosophie schließt das Christentum die archimedische Naturwissenschaft aus, und ebensowenig wie die griechische Philosophie hält das Christentum die archimedische Wissenschaft für echt bedeutsam. Dieses Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung wird bekräftigt durch einen Blick auf das, was die Offenbarung über die Beziehung des Menschen zur Natur sagt.
5.2 Über die Beziehung des Menschen zur Natur nach der Heiligen Schrift
Die Denkform, die der griechischen Philosophie zugrunde liegt, ist derart, daß die Aufmerksamkeit, die sie der Naturwissenschaft im Sinne Archimedes’ und Galileis schenkt, bescheiden ausfällt. Durch diese Art von Naturwissenschaft mag man etwas lernen über einige Akzidenzien des materiellen Seienden, man dringt aber nicht zum Sein als solchem vor, und genau dieses ist es, was zählt im menschlichen Leben. Das Christentum teilt diese Denkform mit der griechischen Philosophie, und in der vom Christentum beherrschten Kultur begegnen wir oft derselben Haltung der Naturwissenschaft gegenüber wie in der vorchristlichen griechischen Kultur. Der christlichen Haltung der Naturwissenschaft gegenüber soll aber mehr im Detail nachgegangen werden. Die Haltung des Christentums der Naturwissenschaft gegenüber kann nicht einfach mit jener der griechischen Philosophie identifiziert werden, weil, wie wir bereits herausstellten, Christentum und griechische Philosophie nicht identisch sind.
1 Offenbarung, Gott, Schöpfung, Übel und Erlösung
Das vorchristliche Judentum, in dem die Wurzeln des Christentums liegen, betrachtet sich selbst als die Frucht einer fortschreitenden Selbstoffenbarung Gottes. Das Volk Israel verstand sich selbst als Werk Gottes. Er hat das Volk durch eine Reihe historischer Ereignisse zu Seinem Volk gemacht. Angefangen mit der Berufung Abrahams, gipfelt sie in der Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten, der Gabe des Gesetzes des Mose ans Volk und der Ankunft in Kanaan, dem verheißenen Land. Israel ist dazu auserwählt, durch seinen Gehorsam Gottes Willen, dem Gesetze, gegenüber ein Zeichen des Heils für die Völker zu sein. Gottes Plan besteht darin, daß die Nationen, indem sie dieses Zeichen sehen, von Israel angezogen werden und des Heiles, das in ihm aufleuchtet, teilhaft werden53. Das Leben im Gehorsam gegenüber Gott, das Israel zu leben auserwählt ist, verwirklicht und manifestiert sich in gerechten Beziehungen in allen Bereichen des menschlichen Lebens, sowohl in persönlichen als auch in gesellschaftlichen, in sexuellen und familialen nicht weniger als in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Gerechtigkeit, Friede und Wohlergehen mögen die am meisten ins Auge springenden Komponenten des Heils sein, die Herzensmitte aber ist die rechte Beziehung zu Gott. Das Heil ist Gottes Werk. Die Befreiung Israels aus der Sklaverei in Ägypten und das Gesetz, das die religiöse und soziale Ordnung in Israel bestimmt, sind Gottes Gabe. Es ist genau die Untreue gegenüber Gott, die Israel, einmal im verheißenen Land angekommen, in Chaos und Elend werfen wird. Sie gipfeln in der Unterdrückung und Versklavung des Volkes durch fremde Mächte und im Verlust des verheißenen Landes während des Exils in Babylonien. Doch sind die Beziehungen im Volke schon vor dieser historischen Katastrophe gestört; und es ist dies das Ergebnis eines Mangels an wahrer Gottesfurcht. Die Propheten, die zum Volke gesandt werden, beklagen Apostasie (Untreue gegenüber Jahwe und die Verehrung falscher Götter) und soziale Ungerechtigkeit (besonders die Unterdrückung der Armen).
Das Herz des Lebens des Volkes Israel ist die Beziehung zu Gott. Sie beruht auf dem, was als Selbstoffenbarung Gottes wahrgenommen wird. Er hat zu mehreren Personen (besonders Abraham und Mose) gesprochen, Er hat das Leben der Patriarchen (Abraham, Isaak, Jakob, Joseph) so gelenkt, daß aus ihnen das Volk Israel hervorgegangen ist, Er hat es aus der Sklaverei in Ägypten befreit, durch Mose Israel das Gesetz gegeben und durch die Propheten zum Volke gesprochen und es zum Gehorsam Ihm gegenüber ermutigt. Offenbarung geschieht also durch Wort und Tat. Die Offenbarung schafft Neues und Unerwartetes in der Geschichte54. Offenbarung geschieht nicht nur in der Geschichte; Offenbarung schafft auch Geschichte. Offenbarung treibt Menschen dazu an, Dinge, die sie ohne die Offenbarung nie getan hätten, zu tun; sie schafft Fakten, die den Adressaten der Offenbarung eine neue und unerwartete Zukunft eröffnet55. Das Zukunft Schaffende ist genau das, was die Offenbarung offenbart und wodurch sie als solche unterschieden wird; mit anderen Worten, historische Ereignisse werden deswegen als Taten Gottes in der Geschichte und als Seine Selbstmitteilung an Menschen wahrgenommen, weil neue und unerwartete Möglichkeiten eröffnet werden. Offenbarung beinhaltet nicht, daß das Geheimnis der Welt bzw. das Geheimnis hinter ihr sichtbar oder transparent wird. Gott bleibt in der Offenbarung verborgen56. Und als solcher will Er anerkannt, respektiert und geehrt werden. Er ist die absolute Macht über die Welt und als solche transzendent, frei und unfaßbar. Man kann sich demnach kein Bild von Gott machen. Man soll sich keins machen; wenn man es täte, ehrte man Gott nicht so, wie Er ist, sondern tendierte dazu, das Göttliche mit etwas Endlichem zu identifizieren und somit sich von einem Idol versklaven zu lassen. Nach der biblischen Offenbarung ist der Mensch jedoch nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen. Die Theologie hat den Sinn dieser Aussage bis heute nicht vollständig erfaßt57. Es darf aber angenommen werden, daß sie auf die Offenheit des Menschen für die Offenbarung Gottes, die er verstehen und der er frei antworten kann, und für Seine Selbstmitteilung, die er frei entgegennehmen kann, verweist. So zeigt sich, daß im Menschen sich etwas Wesentliches von Gott Selbst widerspiegelt, nämlich etwas von Seiner Freiheit, Seiner Unbegreiflichkeit, Seiner Transzendenz und Seiner Erhabenheit; und durch die positive Antwort auf Gottes Selbstmitteilung hat der Mensch teil an Gottes Leben, so daß er Ihm ähnlich wird. Durch die Offenbarung offenbart Gott Sich als Macht über die Natur und damit als ihr Schöpfer. Sie ist Gottes Willen unterworfen. Der Gott, der Sich als Macht über Natur und Geschichte manifestiert, der nicht in die Welt eingeht und mit ihr untergeht, der vielmehr, erhoben und erhaben über allem, eben dieses All in Seiner Hand hält, ist naturgemäß einer, unvergleichlich und einzig. Es gibt keinen Gott neben Ihm. Der biblische Gottesglaube ist von seinem Wesen her monotheistisch58. Die Offenbarung löst zwar das Geheimnis, das Gott ist, nicht auf, sie offenbart aber immerhin, daß Er ist, und damit, daß Welt und Mensch nicht sich selbst überlassen sind, sondern ihre Wurzeln und Zukunft in Ihm haben. Gottes Macht ist keine Willkürmacht, sondern offenbart sich als wohlwollend und Zukunft schaffend.
Der biblische, insbesondere der alttestamentliche Glaube an Gott als den transzendenten Schöpfer des Universums wirkt sich aus auf das Bild der Natur und des Menschen Beziehung zu ihr. Die Natur ist kein Absolutes und erscheint nicht als ein fatum, dem der Mensch unterworfen wäre. Das ist nicht nur so, weil Gott hinter der Natur steht. Von Gott angesprochen und fähig, Ihm zu antworten, weiß der Mensch sich selbst als frei. Er weiß sich damit frei vor der Natur und frei, über sie zu herrschen. Für den Menschen, der die Natur in den Händen des Gottes, der eine Zukunft für die Welt schafft, weiß, ist die Natur zumindest im Prinzip nicht unberechenbar oder unzuverlässig. Gott herrscht so über die Natur, daß das Leben überhaupt in seiner Vielgestaltigkeit und das menschliche Dasein im Besonderen möglich sind. Im Prinzip ist die Welt ein geordnetes Ganzes. Die bestehende Ordnung darf aber nicht im Sinne eines starren Determinismus verstanden werden. Sie ist das Werk eines souverän handelnden Gottes und hängt ganz von Ihm ab. Seine Herrschaft über die Natur ist keine Willkür, so daß die Natur nicht chaotisch ist, sondern