Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
– war und ist der bevorzugte Weg zu Gott des Menschen „inneres Leben“, zu dem er Zugang hat durch Gebet und Liturgie. Als vernünftiges Wesen, ausgestattetet mit Denken und freiem Willen, transzendiert der Mensch alles Endliche und öffnet sich für Gott; er wird entdecken, was ihm den Zugang zu Gott versperrt, und versuchen, es aus dem Weg zu räumen. Ein typisches Beispiel der Frömmigkeit, die wir hier diskutieren, kann gesehen werden in des hl. Augustinus’ bündiger Zusammenfassung dessen, was er zutiefst verlangt: „Gott und die Seele will ich erkennen – sonst gar nichts!“63 Gewiß, der Christ, der von der Sünde erlöst ist, richtet seinen Blick „nach außen“. Das Gnadenleben des Christen ist ein Leben der Liebe: Man überwindet seine Selbstversklavung, und das „in sich verkrümmte Herz“ öffnet sich für den anderen. Die Liebe wird jedoch primär als Liebe zu Gott – manche Mystiker werden sagen, daß die Liebe zu Gott im Grunde die Liebe zur Liebe selbst ist, denn Gott ist Liebe – und zum Nächsten verstanden (vgl. Mk. 12,28-34). Der Blick des Christen „nach außen“ richtet sich also primär auf seine „Mitmenschen“. Das ist sowohl in der Schrift als auch in der späteren christlichen Tradition so.
2. Die christliche Spiritualität hat nichtsdestoweniger Platz für die Natur. „Liebe und tu, was du willst“, ist eine bekannte Aussage des hl. Augustinus. Sie deutet an, daß das menschliche Dasein durch die Gnade dazu bestimmt ist, gänzlich und als solches Liebe zu werden. Es ist demnach nicht so, daß die christliche Liebe sich auf bestimmte Gegenstände beschränkt. Wenn letzteres der Fall wäre, liebte der Mensch nur in bestimmten Umständen – zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten –, aber nicht grundsätzlich und in der Regel. Dann wäre die Rede von der Erlösung des Menschen für Freiheit und Liebe im Grunde absurd und leer. Wie aber manche Mystiker sagen, nimmt der Mensch durch die Gnade – in der Gemeinschaft mit Gott, der die Liebe ist – mehr und mehr das Dasein, ja die Gestalt der Liebe an. Dank der reinen Beziehung zu Gott nimmt der Mensch die Natur in ihrer Schönheit und Güte wahr – wir sagten schon, daß die Offenbarung die Natur nie negativ, sondern immer in einem positiven Licht porträtiert, und das rechtfertigt das spätere theologische Axiom gratia non destruit, sed supponit et perficit naturam –, und umgekehrt ist der reine Blick auf die Natur ein Element der rechten Beziehung zu Gott64. Die Liebe gibt dem Menschen einen reinen Blick auf die Natur, und durch diesen Blick, ungetrübt von der Sünde, nimmt der Mensch in der Natur die Gegenwart Gottes, des Schöpfers der Welt, der Sich um alles, was Er geschaffen hat, kümmert, wahr (vgl. Mt. 6,19-34). Die Welt erscheint in ihrem ursprünglichen Gutsein und ihrer ursprünglichen Schönheit und somit als ein Verweis auf Gott und als ein Medium der Gotteserkenntnis (vgl. Röm. 1,19-24)65; insofern, als die Welt unter dem Bösen zu leiden hat, erscheint sie als der Erlösung und der Heilung bedürftig (vgl. Röm. 8,19-22). Dort, wo der Blick des Menschen auf die Natur von der Sünde verzerrt ist, nimmt er Gott in der Natur nicht wahr, bzw. nimmt Ihn in entstellter Weise wahr (vgl. Mt. 6,19-34; Röm. 1,19-24). Faktisch ist der Blick des Menschen auf die Wirklichkeit getrübt von der Sünde (vgl. Röm. 1; Joh. 9). Durch die Erlösung werden seine Augen geöffnet (Joh. 9). Die christliche Erlösungslehre impliziert somit, daß die Gemeinschaft mit Gott in der Liebe ein heiles Verhältnis zur Natur mit sich bringt. Es ist keine analytische, wissenschaftliche Beziehung, keine Erkenntnis der Weise, wie die Natur funktioniert, sondern vielmehr eine Haltung der Bejahung und der Hochschätzung, der Bewunderung und des Staunens. Wir sehen diese Haltung verkörpert im hl. Franz von Assisi. Im Prinzip vertieft sie das Interesse an der Natur und stützt somit die Erforschung der Natur.
3. Im Prinzip steigert die Offenbarung das Interesse an der Natur und deren Erforschung auch insofern, als im Lichte der Offenbarung die Natur als Gottes Schöpfung und als der Ausdruck Seiner Vorsehung, somit nicht als sakral, sondern als profan erscheint66 – für den Gläubigen ist die Natur nicht beängstigend (auch die Himmelskörper haben nichts Göttliches), und sie hat keine Bereiche, die ihm prinzipiell verschlossen („tabu“) wären –, und überdies eine rational intelligible Struktur aufweist. Der Mensch ist dazu bestimmt, die Erde zu kultivieren – und in diesem Sinn sie sich untertan zu machen – und sie somit zu erforschen. Nach Gen. 1 ist das ein Auftrag, der dem Menschen mit der Schöpfung gegeben ist. Die thomistische Lehre der Selbsterfahrung des Menschen als eines Wesens mit einem natürlichen Verlangen nach Erkenntnis entspricht diesem Auftrag. Theologisch beruht die Möglichkeit, die innere „Logik“ der Welt zu untersuchen, auf dem Glauben an die Schöpfung der Welt durch einen guten, allmächtigen Gott, der als solcher rational handelt. Aufgrund dieses Glaubens an Gott kann angenommen werden, daß die Werke Seiner Schöpfung rationaler Forschung offenstehen. Jesu Gebot, den Nächsten zu lieben, und Seine Sorge für die Kranken werden den Christen zur Kultivierung der Gesundheitspflege, der medizinischen Praxis und damit der Wissenschaft und Forschung anregen. Dieser Stimulus hat seine Spuren im Ordensleben hinterlassen.
4. Freilich: Obwohl in der vom Christentum beherrschten Kultur der Spätantike und des Mittelalters das intellektuelle Leben im Laufe der Zeit eine große Entwicklung durchmachte, wurden auf dem Feld der Naturwissenschaft und der Naturphilosophie de facto kaum Fortschritte erzielt. Das mag z.T. daran liegen, daß im christlichen Glaubensleben die Beziehung des Menschen zu Gott, zu seinem Nächsten und zu sich selbst Priorität hat und der Erforschung der Natur um ihrer selbst willen keine grundsätzliche Bedeutung beigemessen wird. Das ist bereits in der hl. Schrift so, und es wird in der christlichen Kultur so bleiben bis zum Ende des Mittelalters67. Das Ziel des menschlichen Daseins wird in der Gemeinschaft mit Gott und der beseligenden Gottesschau gesehen68, und dementsprechend besetzen Theologie und Philosophie – insbesondere Metaphysik – die ersten Plätze unter den Wissenschaften. Obwohl die Aussage des hl. Thomas von Aquin, daß alle Erkenntnis mit den Sinnen anfängt, gelesen werden könnte als ein Bekenntnis, daß für ihn Theologie und Philosophie durch die rationale Naturerkenntnis vermittelt werden, bleibt es so, daß das, was für ihn wirklich wichtig ist, weniger Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis konkreter empirischer Tatsachen wie sie in der Moderne entwickelt werden wird, ist als die philosophische, insbesondere ontologische Analyse, im Geiste des Aristoteles, der formalen Struktur des materiellen Seienden als ein Medium der Metaphysik und der Theologie. Solche Naturphilosophie hängt zweifellos von der Sinneserfahrung ab – in der Konfrontation mit ihr hat sich die Naturphilosophie zu bewähren, sie darf ihr nicht widersprechen –, kann aber nichtsdestotrotz in hohem Maße a priori entwickelt werden69. In diesem Zusammenhang muß auch gesagt werden, daß die Aussage des hl. Paulus, daß der Mensch Gott und Seinen Willen durch die Schöpfung erkennen kann, kein Auftrag, wie Archimedes oder Galilei Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis konkreter empirischer Tatsachen mit Blick auf die Erkenntnis Gottes anzustreben, ist. Wie bereits gesagt, verweist diese Aussage auf die Tatsache, daß durch den Blick auf die Natur dem Menschen bewußt wird, daß sich in ihr eine Ordnung, durch die alles, was lebt, existieren kann, auftut und daß die Natur in ihrer Kontingenz somit auf einen intelligenten, mächtigen und guten Schöpfer und Herrscher der Welt, den transzendenten Gott, verweist. Auch der hl. Thomas von Aquin denkt so70. Die Beziehung zu Gott ist demnach kaum abhängig von der Naturwissenschaft im Sinne detaillierter Erkenntnis bestimmter, konkreter Phänomene (oder Arten derselben), so daß diese Art von Wissenschaft von sekundärer Bedeutung ist für die mittelalterliche Person, die der Beziehung zu Gott absolute Priorität vor allem anderen zuerkennt. Das ist aber nicht der einzige Grund, und unserer Ansicht nach nicht einmal der wichtigste Grund, warum Naturphilosophie und Naturwissenschaft in der vom Christentum beherrschten Kultur der Spätantike und des Mittelalters nur geringe Fortschritte verbuchten. Tatsächlich nahm in der zweiten Hälfte des Mittelalters das Interesse für Naturphilosophie und Naturwissenschaft zu. Der relative Mangel an Interesse in früheren Perioden hat wichtigere Gründe als die aus der christlichen Spiritualität sich ergebenden.
5.3 Geschichtliche Gründe für die schwache Entwicklung der Naturwissenschaft in Spätantike und Mittelalter
1 Die geschichtliche Entwicklung des intellektuellen Lebens im Mittelalter
Vorher gaben wir eine grobe Skizze der Entwicklung des rationalen Denkens über die Natur in der vorchristlichen europäischen Antike. Es ging öfter um Naturphilosophie als um Naturwissenschaft. Die Denker der Antike skizzieren oft die Struktur des Seins des materiellen Seienden aus metaphysischer oder ontologischer Perspektive – im