Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae


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Schöpfung. Es ist dem natürlichen Seienden also gegeben, zu sein und damit selbst tätig zu sein. Die Regularität, die die Natur kennzeichnet, ohne die Leben unmöglich wäre und der Mensch nicht über die Natur herrschen könnte, schließt die Möglichkeit außergewöhnlicher, „wunderbarer“ Ereignisse nicht aus. Offenbarungsereignisse sind solche wunderbare Ereignisse. Ein Offenbarungsereignis ist etwas Unerwartetes, das neue Möglichkeiten und eine unerhörte Zukunft erschließt. Man kann sagen, daß Gott unerwartete Potenziale in Mensch und Natur freisetzt und ihnen so unerwartete Möglichkeiten gibt; anders gesagt: Gott treibt Natur und Mensch zu dem, was K. Rahner Selbsttranszendenz genannt hat59. Denn ohne die je eigene Tätigkeit von Natur und Mensch geschähe nichts in der Natur bzw. im Menschenleben – es gäbe nichts außer dem Tod, der definitionsgemäß Nichtsein ist bzw. dem Leben, allen Möglichkeiten und jeder Zukunft ein Ende setzt und gerade als solcher der „Ort“ von Offenbarung als Eröffnung einer neuen, überraschenden Zukunft werden kann. Im Neuen Testament wird der Tod jener Ort werden.

      Gott und die Schöpfung sind strikt voneinander unterschieden. Vom Menschen wird gesagt, daß er nach Gottes Bild und Gleichnis geschaffen worden ist, aber als solcher ist er nicht Gott. Das Geschöpf hat das Sein so empfangen, daß das Geschöpf „auf eigenen Beinen steht“. Seine Unabhängigkeit ist somit relativ; ihm ist das Sein gegeben worden. Die Natur ist profan und hat nichts Göttliches. Der Glaube an Jahwe setzt sich strikt ab von der Weise, wie die Heiden natürliche Phänomene – die Fruchtbarkeit des Landes, das Wetter, menschliche Fruchtbarkeit, Bäume usw. – in individualisierten, sogar personalisierten Gestalten verehren. Die „Entsakralisierung“ der Natur befreit den Menschen von Angst vor ihr und macht ihn frei vor ihr. Er ist der Natur nicht unterworfen, sondern hat die Aufgabe, sie zu verwalten. Das ist die Kehrseite des Glaubens an Jahwe als den souveränen Herrscher der Welt. Die dem Menschen gegebene Aufgabe, sich die Welt untertan zu machen, setzt voraus, daß sie eine erkennbare rationale Struktur hat.

      Die Natur ist nicht göttlich, sondern profan. Insofern, als sie geschaffen ist, ist sie nicht schlecht, sondern gut. In ihrer Schönheit und Güte ruft sie Staunen und Bewunderung hervor und bringt den Menschen dazu, den Schöpfer zu verherrlichen und Ihm zu danken (siehe Ps. 104). Für die Schrift ist das Widergöttliche – das Böse – nicht das Endliche oder das Materielle als solches. Die Natur als solche flößt keine Angst ein. Die Natur wird nicht einmal dort „verurteilt“ (oder verflucht), wo der Mensch sie spontan als bedrohlich erfährt: in der Wüste, gegenüber wilden Tieren usw. Die Erfahrung von Bedrohlichem in der Natur ist kein Grund, das, was als bedrohlich erfahren wird, schlecht zu nennen; das, was als bedrohlich erfahren wird, wird vielmehr gesehen als der Erlösung bedürftig (siehe Is. 11,6-8) oder sogar als in gewisser Weise gut auch und gerade in seinen bedrohlichen Aspekten (so wird Israels Verbleib in der Wüste auf dem Wege zum verheißenen Lande als eine Zeit der Gnade betrachtet). Die Schrift ignoriert jedoch mitnichten das, was Philosophie und Theologie später „physisches Übel“ nennen werden, und versucht nicht, es zu rationalisieren. Krankheit und Tod werden als Übel wahrgenommen und als solche benannt. Dieses Übel wird aber nicht dem materiellen Seienden als solchem zugeschrieben. Gott kann den Menschen vor dem Übel schützen bzw. aus ihm erretten, ohne ihn dazu aus seiner materiellen Natur „befreien“ zu müssen. Das impliziert, daß die verschiedenen Gestalten leiblichen und seelischen Leidens, besonders Krankheit und Tod, der Natur nicht inhärent sind. Es scheint, daß, je weiter die Offenbarung fortschreitet, desto mehr das Auftreten jener Leiden bösen Mächten zugeschrieben wird: bösen, Gott und dem Menschen feindlichen Geistern, Dämonen und dem Teufel. Sie sind es auch, die den Menschen zum Bösen verführen; aber für die Offenbarung hebt das die persönliche Verantwortung des Menschen für seine bösen Taten nicht auf. Seine Sünde wird hervorgelockt durch die Versuchung durch eine böse Macht. Die Geschichte der Sünde deckt sich nahezu mit der Geschichte der Menschheit. Die Sünde besteht aus Mißtrauen und Ungehorsam Gott gegenüber und Rebellion gegen Ihn und drückt sich aus in jeglicher Art von Bosheit gegenüber dem Nächsten, die naturgemäß prompt zu Mord führt, stürzt aber zugleich den Sünder selbst in Unglück und Verwirrung. All das ist sicher auf die persönliche Verantwortung des Menschen zurückzuführen, und dennoch ist er nicht nur Betreiber des Bösen, sondern auch dessen Opfer. Der Mensch ist das Opfer übernatürlicher Wesen, die ihm zum Bösen verführen. Insofern, als sie böse genannt werden können, scheinen sie es nicht kraft ihrer Natur (im ontologischen Sinne des Wortes), sondern vielmehr kraft des Gebrauchs ihrer Freiheit zu sein. Doch üben nicht nur diese Wesen einen schlechten Einfluß auf den Menschen aus; auch die Sünde, einmal in die menschliche Geschichte eingetreten, übt Macht über ihn aus, so daß er dazu neigt, böse zu handeln, und unfähig ist, diese Neigung aus eigener Kraft zu überwinden. Sein Elend und sein Leiden können jedenfalls nicht „natürlich“ genannt werden. Ihr faktisches Auftreten war nicht notwendig. Ein „böser Wille“ – dem Menschen und anderen geistigen Wesen zuzuschreiben – ist die Wurzel des Elends des Menschen. Die Schrift sagt nicht, woher diese Bosheit letztlich kommt, und scheint damit der Tatsache, daß das Böse etwas Unerklärliches und Unverständliches hat, Ausdruck zu verleihen. Die Schrift weiß jedenfalls nicht von einer bösen Macht, die gleichursprünglich mit dem guten Gott und so mächtig wie Er wäre; anders gesagt: Die Schrift kennt keinen ontologischen Dualismus. In der Schrift – sogar im Buche Job, das mehr als alle anderen Bibelbücher das Problem der Theodizee diskutiert – begegnen wir kaum einem Versuch, eine letztgültige Erklärung des Bösen in der von Gott geschaffenen Welt zu geben. Wichtiger als diese Frage ist für die Schrift die Frage nach der Erlösung von dem Bösen60. Man kann sagen, daß die biblische Offenbarung genau aus Gottes Antwort auf das Bedürfnis von Mensch und Welt nach Erlösung und auf das Verlangen des Menschen nach Heil besteht. Die Bibelexegese hat gezeigt, daß in Gen. 1-11 die Ausgangslage von Welt und Mensch vor Gott – die Lehre von Schöpfung und Übel – dargelegt wird und in Gen. 12 die Geschichte der Antwort Gottes auf das Böse beginnt mit der Berufung Abrahams, der zum Segen für die Völker werden und damit Heilsbedeutung für die ganze Welt gewinnen soll.

      Nach dem Neuen Testament hat Gott Seine Antwort auf das Böse vollendet, indem Er Jesum Christum und den Heiligen Geist in die Welt gesandt hat. Das Böse ist überwunden durch die Sendung Christi und des Geistes. Erlösung geschieht durch die Liebe, die Gott Selbst ist. Durch Christum und im Geiste befähigt Gott den Menschen zur Liebe zu Gott und zum Nächsten. Die Sünde wird von dieser Liebe besiegt. Man hat Zugang zu ihr – zum Sieg über die Sünde – durch die Person Jesu Christi, durch die Gemeinschaft mit Ihm, besonders durch die Teilnahme am Opfer seines Lebens am Kreuz. Man hat Zugang zu Christo durch Seinen Leib, die Kirche; und man wird ihr „einverleibt“ durch die Taufe, durch die die Sünden vergeben werden. Die Gemeinschaft mit Christo, besonders die Teilhabe an Seinem Kreuzesopfer, wird sakramental weitervermittelt durch die Feier des „Herrenmahls“, des Meßopfers, der Eucharistie. Im Falle des Verlustes der Gnade durch die Sünde wird die heiligmachende Gnade bzw. die caritas dem Menschen neu eingegossen durch das Sakrament der Buße und Versöhnung. Im Mittelalter wird diese sakramentale Frömmigkeit das Herz des christlichen Lebens sein, und bis heute sollte sie das katholische Glaubensleben bestimmen. Zugleich aber wurde und wird auch immer abgehoben auf das tägliche Leben als den Ort, in dem das Gnadenleben sich verwirklicht. Liebe bezeigt sich und verwirklicht sich in der Tat in der Liebe zum Nächsten, besonders zu den Geringsten der Menschen, deren Nöte sie zu lindern sucht.

      Können wir sagen, daß der Glaube an die biblische Offenbarung Naturphilosophie und Naturwissenschaft begünstigt? Wir werden diese Frage differenziert beantworten müssen.

      1. Der Zweck der Offenbarung besteht nicht in der Mitteilung von Naturerkenntnis. Er besteht in der Gemeinschaft von Mensch und Welt mit Gott und im Sieg über das Böse. Grundsätzlich wird das Böse nicht in der Materie oder der Natur gesehen, sondern im bösen Willen. Der Sieg über das Böse und die Gemeinschaft mit Gott sind Sache der Gnade, also das Werk Gottes; aber der Mensch muß ihr zustimmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, scheint der Glaube an die Offenbarung das Interesse an der Natur nicht zu befördern. Der Glaube an die Offenbarung entspricht der Suche nach Gott, und Gott kann nicht mit der Welt oder etwas in ihr identifiziert werden. Er ist strikt transzendent61. Für die christliche Frömmigkeit und Theologie ist Gott nicht die Natur, bzw. Er ist


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