Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae


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auf die Entwicklung von Waffenzeug zu verdanken. Der moderne Geist ist sich offensichtlich dessen bewußt, daß seine Beziehung zur Natur und seine Erkenntnis von ihr höchst praktisch sind, ohne daß es dem objektiven Wert der Erkenntnis schaden müßte. Nach Francis Bacon und René Descartes dient des Menschen Erkenntnis der Natur deren Beherrschung, und Immanuel Kant weiß, daß die Natur dem Menschen nur auf das, wonach er sie fragt, antwortet.

      Das Werk Galileis wird meistens als der Beginn der Naturwissenschaft, wie wir sie heute kennen, betrachtet. Das erklärt sich daraus, daß Galilei zum Gewinn von Naturerkenntnis als erster konsequent jene Arbeitsmethode, die seitdem die rationale Erforschung der Natur, vor allem der anorganischen, leitet, angewandt hat. Aufgrund der Sinneswahrnehmung wird eine persistierende systematische („gesetzmäßige“) Beziehung zwischen meßbaren Aspekten des Materiellen vermutet; sie wird ausgedrückt in einer mathematischen Gleichung; die so formulierte Regel wird experimentell mit der Sinneserfahrung konfrontiert; und der experimentelle Test wird die anfängliche Vermutung entweder bestätigen oder widerlegen. Die Einsichten, die durch die Anwendung dieser Methode in der Naturwissenschaft gewonnen werden, erlauben Vorhersagen konkreter natürlicher Phänomene und Anwendungen in der Technologie. Es ist vornehmlich die Technologie, die die Naturwissenschaft im Stile Galileis, die im Werke Newtons einen ersten – vorläufigen – krönenden Abschluß fand, ermöglicht hat, wodurch das menschliche Dasein und das Antlitz der Erde in beispielloser Weise verändert worden sind. Diese Art von Naturwissenschaft taucht in der Geschichte der Menschheit relativ spät auf. Die moderne Naturwissenschaft entstand an einem ganz bestimmten Ort zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt und somit in einer ganz bestimmten Kultur, nämlich in der westeuropäischen Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie hatte sich entwickelt aus der Begegnung und Verschmelzung des griechischen und römischen Denkens der klassischen Antike mit dem Christentum und war nach Leuten wie P. Duhem und S. Jaki der ideale Nährboden für die moderne Naturwissenschaft, so daß es kein Zufall ist, daß sie sich eben im Westeuropa des 17. Jahrhunderts entwickelte und nicht anderswo.

      Es stimmt, daß gegen Ende des Mittelalters sich eine Kultur, die in gewissen Hinsichten die Geburt der modernen Naturwissenschaft fördert, entwickelt. Die traditionelle christliche Lehre, daß Gott alles in absoluter Freiheit, mit Weisheit und aus Güte erschaffen und den Menschen dazu auserwählt habe, sich die Erde untertan zu machen, ermutigt ihn dazu, die Welt zu erforschen. Sie besitzt eine rationale Struktur, die als solche dem menschlichen Verstand zugänglich ist, und hat nichts Sakrales oder Beängstigendes an sich. Die wiedergefundene Vertrautheit mit dem literarischen Erbe der klassischen Antike einerseits und die theologische Anerkennung des eigenen Sinnes der natürlichen Ordnung andererseits begünstigen das intellektuelle Interesse für die Welt und das menschliche Dasein als solche, unabhängig von deren religiösen Bedeutung. Der Nominalismus, der konsequent die Freiheit Gottes verteidigt und vielleicht auch deswegen die Philosophie an den Universitäten gegen Ende des Mittelalters beherrscht, widmet seine Aufmerksamkeit dem Besonderen und Einmaligen und impliziert die Anerkennung der Bedeutung der Sinneswahrnehmung für die Naturerkenntnis.

      Diese spätmittelalterlichen Entwicklungen mögen die Geburt der modernen Naturwissenschaft – im Sinne Galileis und Newtons – begünstigt haben, es ist nichtsdestoweniger so, daß das Erscheinen der modernen Wissenschaft etwas Neues in der Kulturgeschichte Europas darstellt. Kennzeichnend für die moderne Naturwissenschaft ist nicht nur ihr empirischer, experimenteller Charakter, sondern auch ihr Interesse für das, was die griechische Philosophie oft als „akzidentell“ betrachtete, besonders das Phänomen der Bewegung (Ortsveränderung), und ihre erklärte Absicht, diese akzidentelle Wirklichkeit mathematisch zu beschreiben. Es gibt nur wenige Präzedenzien hierfür im vormodernen Denken. Weder das Interesse fürs Akzidentelle im allgemeinen und für Ortsveränderung im besonderen, noch die Absicht, es mathematisch zu beschreiben, fehlte im griechischen Denken, aber wie wir bereits sahen, widmete dieses seine Aufmerksamkeit doch hauptsächlich dem Bleibenden, dem Sein im Blick auf das, was für die menschliche Existenz wesentlich ist, und beschrieb es in der dem Qualitativen angemessenen Sprache. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das antike und mittelalterliche christliche Denken kaum vom antiken griechischen. Trotz des Platzes, der im Spätmittelalter geschaffen wird für die Erforschung des eigenen Sinnes der „natürlichen Ordnung“, unabhängig von ihrer Bedeutung für die Beziehung zu Gott, bleibt für das Christentum die Gemeinschaft mit Gott bzw. die selige Gottesschau die wahre Bestimmung des Menschen, und beim Erreichen dieser Bestimmung kommt der Erforschung der Natur keine wesentliche Rolle zu.

      Aristoteles’ irrige Ansichten über die Bewegung fliegender und fallender Körper blieben im wesentlichen unumstritten bis zum Ende des Mittelalters. Es war hauptsächlich das Bedürfnis nach akkuratem Waffenzeug, also die Entwicklung der Technologie, die dazu führte, daß diese Ansichten als falsch entlarvt und korrigiert wurden72. Ihre Berichtigung erforderte die Arbeit mehrerer Forschergenerationen und wurde von Galilei besiegelt. Auch auf anderen Gebieten der Naturwissenschaft war es oft durch die Entwicklung der Technologie oder den Willen, das was heute „Lebensqualität“ genannt wird, zu verbessern, nämlich durch wachsende Einsichten auf den Gebieten von Medizin, Architektur usw., daß Fortschritte erzielt wurden. Auch heute noch ist das erwähnte Bedürfnis oft die treibende Kraft hinter den Entwicklungen in den Naturwissenschaften. Diese Entwicklungen werden aber ebenso vorangetrieben vom alten Ideal der Erkenntnis um der Erkenntnis willen73. Das ist besonders deutlich zu sehen im Falle der Astronomie und der Kosmologie. Besagtes Ideal war auch entscheidend für die Arbeit Galileis selbst. Mit ihr beginnt die Erfolgsgeschichte der modernen Naturwissenschaft.

      Die Verschmelzung der antiken griechisch-römischen Kultur mit dem Christentum mag einen idealen Nährboden für die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft geschaffen haben, sie erscheint nichtsdestotrotz recht spät auf der Bühne der Geschichte. A. van Melsen erklärt dies folgendermaßen74: Naturwissenschaft kann sich erst entwickeln, wenn es gelungen ist, eine gesetzmäßige Beziehung zwischen bestimmten Aspekten des Materiellen zu enthüllen. Aber eben dieser Anfang der Naturwissenschaft ist schwierig. Angesichts der Vielfalt der Aspekte der materiellen Welt – Farbe, Klang, Gewicht, Härte, Umfang usw. – ist es nicht immer einfach zu entdecken, welche Aspekte miteinander zusammenhängen bzw. wie die miteinander zusammenhängenden Aspekte sich zueinander verhalten. Doch wenn man einmal einen bestimmten Zusammenhang zwischen bestimmten Faktoren entdeckt und die Weise, in der man ihn entdeckt hat, gesichert hat, ist man orientiert für weitere Forschung, sowohl hinsichtlich ihrer Methode als auch hinsichtlich ihres Inhalts. Man kennt relevante Faktoren und kann ihren Einfluß auf andere Faktoren untersuchen. Aber einer solchen Initialentdeckung, die den Anstoß zu einer Reihe weiterer Entdeckungen zu geben vermag, geht eine Reihe fehlgeschlagener Versuche, gesetzmäßige Beziehungen zwischen natürlichen Faktoren zu entdecken, voraus. Diese fehlgeschlagenen Versuche gehören zum Fortschritt der Naturwissenschaft, denn sie erlauben die Eliminierung offensichtlich falscher Vorschläge zur Lösung von Problemen. Die Tatsache, daß man keinen Zusammenhang zwischen bestimmten Phänomenen sieht oder einen Zusammenhang zwischen bestimmten Phänomenen vermutet, ohne ihn genau bestimmen zu können, ist frustrierend und erklärt, warum man seine Aufmerksamkeit vom Studium der empirischen Natur abwendet und sich dem Studium von Problemen, deren Lösung nicht unerreichbar scheint, widmet. Das sind Probleme der Philosophie, einschließlich der Naturphilosophie, und der Theologie, aber auch der Mathematik und der Logik. Wenn die Sinneserfahrung in Philosophie, Theologie, Mathematik und Logik überhaupt eine Rolle spielt, ist sie jener des rationalen Denkens, das in den genannten Disziplinen in vielen Hinsichten sich selbst genügt, untergeordnet.

      Wir haben verschiedene Gründe für die langsame Entwicklung der Naturwissenschaft in Spätantike und Mittelalter erwähnt. Zunächst verwiesen wir auf die vormoderne Denkform. Das vormoderne Denken ist nicht so sehr interessiert an dem, was vorübergeht, wozu im wesentlichen die ganze materielle Welt gehört, als vielmehr am Sein – an dem, was bleibt –, nämlich insofern dieses als wesentlich fürs menschliche Dasein betrachtet wird. Sodann verwiesen wir auf die turbulente soziale – gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche – und existentielle Lage der Menschen, besonders im Frühmittelalter, die kaum unabhängige wissenschaftliche Forschung erlaubte und stattdessen eine Kultur des Studiums bestehender Werke begünstigte. Sie


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