Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
möglich werden. Die Astronomie als mathematische Beschreibung der Bewegungen der „Himmelskörper“ ist gut entwickelt, schließt aber kaum eine empirisch überprüfbare physikalische Erklärung dessen, was beschrieben wird, mit ein. Manche Denker suchen ein Prinzip (arché) dessen, was ist, in etwas Materiellem, auf das alles, was erscheint oder ist, zurückgeführt werden muß, aber sie kommen kaum weiter als auf mehr oder weniger durchdachte, auf einer Verbindung von Wahrnehmung und Räsonnement beruhende Vermutungen. In den Werken mancher Autoren begegneten wir freilich detaillierten empirischen Studien konkreter Phänomene (oder Arten derselben), die in die Richtung heutiger Naturwissenschaft gehen. Aristoteles hat zahlreiche Phänomene in der lebendigen Natur beschrieben. Er hat insbesondere viele Arten von Tieren katalogisiert. Archimedes kann insofern als ein entfernter Vorläufer heutiger Physik gelten, als er aufgrund experimenteller empirischer Forschung „Naturgesetze“ über quantitative Aspekte des materiellen Seienden formulierte, derart, daß durch Berechnung Phänomene vorausgesagt werden können. Mit dieser Denkform blieb er eine isolierte Gestalt in der Antike. Im zweiten Jahrhundert n.Chr. entwickelt Ptolemäus jenes mathematische Weltbild, das mehr als ein Jahrtausend lang funktionieren wird als das Modell, das es Menschen erlaubt, die Bewegungen der „Himmelskörper“ zu berechnen, obwohl es im Laufe der Zeit mehrmals korrigiert werden muß. Um diese Zeit kommt das rationale Denken über die Natur in Europa zum Stillstand – also geraume Zeit bevor das Christentum die vorherrschende kulturelle Kraft in Europe wird. Es kann demnach nicht davon beschuldigt werden, das rationale Denken über die Natur stillgelegt zu haben. Lange bevor das Christentum die europäische Kultur entscheidend gestalten konnte, war die Zeit des Fortschritts im rationalen Denken über die Natur schon Vergangenheit. Wie wir gesehen haben, kannte die vormoderne Zeit kaum so etwas wie Naturwissenschaft im heutigen Sinne des Wortes. Wie wir bald sehen werden, kann der späte Durchbruch dieser Art von Wissenschaft nicht einfach durch den Mangel an Interesse für die Naturwissenschaften im Christentum erklärt werden.
Der Untergang des weströmischen Reiches und die „Völkerwanderung“ (um 400-800 n.Chr.) machten die unabhängige Ausübung von Wissenschaft und Philosophie in Westeuropa fast unmöglich. Dank der Kirche und besonders den Orden konnte viel vom kulturellen Erbe der klassischen Antike gerettet werden. Bis ins 11. Jahrhundert hinein bestand die intellektuelle Kultur des Mittelalters hauptsächlich aus Abschreiben und Weitergeben bestehender wissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Werke. Mehr war kaum denkbar. Die Klosterschulen und Domschulen gelten als die Vorläufer der Universitäten; deren Geburtstort im 12.-13. Jahrhundert waren die Domschulen. Die Theologie wird als die Höchstform der Wissenschaft angesehen; aber die Universitäten haben auch Platz für die Profanwissenschaften, besonders für Medizin und Jura. Diese Periode kennt erhitzte Diskussionen über das Verhältnis von Glauben und Vernunft sowie die Beziehung zwischen Theologie und Philosophie. Das hängt z.T. zusammen mit der Verbreitung einiger Hauptwerke Aristoteles’ im Europa des 13. Jahrhunderts, nachdem sie dort lange Zeit unbekannt geblieben waren. Die vom hl. Thomas von Aquin verteidigte Idee von Glauben (Offenbarung) und Vernunft als zwei Erkenntnisquellen, die einander nicht widersprechen können, wird bald auf breiter Ebene akzeptiert werden. In der Entwicklung dieser Idee und der Universitäten kann man einen ersten Schritt auf dem Weg zur Säkularisierung des Denkens, d.h. zu seiner Loslösung von religiöskirchlichen Vorgaben, sehen. Die so verstandene Säkularisierung ist insofern theologisch legitim, als sie dem Gebot, das nach Gen. 1 dem Menschen mit der Schöpfung gegeben worden ist, entspricht, nämlich dem Gebot, die Erde zu kultivieren und sich sie in diesem Sinn untertan zu machen, somit die Natur unabhängig von Theologumena zu erforschen. Für die katholische Theologie bedeutet der Unterschied zwischen natürlicher und übernatürlicher Ordnung, daß das menschliche Dasein auch ohne die übernatürliche Vergöttlichung des Menschen Sinn hat71. Diese theologische Konzeption gesteht der „natürlichen“, nicht vom Glauben erleuchteten Vernunft, Kompetenz in Angelegenheiten, die nicht unmittelbar das „übernatürliche“ Ziel des Menschen betreffen, zu – und ist damit die theologische Rechtfertigung der Autonomie, die die „profane“ Wissenschaft später für sich einfordern wird. Überdies ist die natürliche Vernunft auch kompetent in theologischen Angelegenheiten, obwohl sie die geoffenbarte(n) Glaubenswahrheit(en) nicht ganz aus sich selbst heraus entdecken kann. Die natürliche Vernunft ist natürlicher Gotteserkenntnis fähig. Die theologische Anerkennung der Legitimität des Gebrauchs der nicht vom Glauben erleuchteten Vernunft berechtigt also nicht zu einer komplett atheistischen oder agnostischen Weltsicht. Die Kirche hat die Vorstellung, daß Vernunft und Glauben einander widersprechen könnten, insbesondere, daß etwas in der Philosophie wahr, in der Theologie aber falsch sein könnte (oder umgekehrt), immer abgelehnt.
An den Universitäten wurden verschiedene Profanwissenschaften um ihrer selbst willen geübt, aber es gab keine unabhängige Naturwissenschaft. Die Praxis der Naturphilosophie und Naturwissenschaft war dem Mittelalter jedoch nicht fremd. Doch die Rolle, die die empirische Naturforschung im mittelalterlichen wissenschaftlichen Betrieb spielte, war eher marginal. Das hat etwas mit der Eigenart des mittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs zu tun. Wie gesagt, war er zunächst hauptsächlich beschränkt aufs Kopieren und Weitergeben bekannter theologischer, philosophischer und wissenschaftlicher Werke. Später transformierte sich diese Praxis in deren Diskussion und Kommentierung. Diese Veränderung war der Reflex der Beobachtung von Spannungen zwischen den Äußerungen der verschiedenen „Autoritäten“, also der Autoren, deren Werke studiert, kopiert und weitergegeben wurden. Der geographische, kulturelle, historische und religiöse Hintergrund der „Autoritäten“ war sehr heterogen. Unter ihnen treffen wir griechische und römische, heidnische und arabische, islamische Philosophen, christliche Autoren usw. an. Ebenso heterogen waren die literarischen Gattungen der studierten Werke: Wir begegnen unter ihnen doktrinären Definitionen des Lehramts der Kirche, Gebeten und Katechesen der Kirchenväter, philosophischen Traktaten usw. Da all diese Texte zumindest auf den ersten Blick inhaltlich nicht immer miteinander übereinstimmten, aber gleichwohl von Autoren, die anerkannte Autoritäten waren, stammten, wollte der mittelalterliche Gelehrte untersuchen, ob anscheinend einander widersprechende Aussagen nicht dennoch miteinander versöhnt werden könnten durch eine logische Analyse, die ihre Tragweite und Bedeutung ans Licht brächte. Die mittelalterliche intellektuelle Kultur bestand somit großenteils aus dem Studium bestehender Werke, einschließlich der Studien in Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Diese Art intellektueller Arbeit stimuliert aber nicht die empirische Naturforschung. Die Bedeutung des Empirischen und insbesondere des Experimentellen für die Naturforschung wird gleichwohl erkannt von zwei englischen Denkern aus dem 13. Jahrhundert, Robert Grosseteste und Roger Bacon. Ersterer macht nicht nur die Naturwissenschaft von der Mathematik abhängig, sondern erkennt auch, daß die Naturwissenschaft methodisch arbeitet mit dem, was später Induktion genannt werden wird. Für letzteren ist die Bedeutung der „Autoritäten“ für die Naturwissenschaft der Erfahrung untergeordnet. Die Anerkennung des empirischen Charakters der Naturwissenschaft wird philosophisch untermauert werden im Nominalismus. Er bestreitet, daß ein bestimmter, distinkter Begriff – der in Sprache und Denken im Prinzip auf verschiedene individuelle Gegenstände angewandt werden kann und faktisch auch darauf angewandt wird – einer bestimmten, distinkten Wirklichkeit entspricht. Der Nominalismus impliziert damit, daß ein jedes individuelles materielles Seiendes in seiner Unterschiedenheit nur durch die Sinneswahrnehmung erkannt werden kann. Er entspricht insofern der christlichen Lehre von Gott und der Schöpfung, als fürs Christentum Gottes schöpferischer Akt, wenn überhaupt, dann nur an logische Notwendigkeit gebunden ist, mitnichten aber an die vermeintliche Notwendigkeit ontologischer Wesensbestimmungen, die angeblich dem Schöpfungswerk Standards setzten. Man kann sagen, daß die darwinistische Evolutionstheorie die nominalistische Logik verkörpert, da für diese Theorie ein Lebewesen nicht einfach als ein repräsentatives Exemplar einer bestimmten, klar definierten Art betrachtet werden kann, sondern immer nach seinen individuellen Charakteristiken bestimmt werden muß.
Im Mittelalter wird Fortschritt auf dem Gebiete der Naturwissenschaft hauptsächlich durch die Entwicklung der Militärtechnik, Architektur, Medizin, Alchemie usw. erzielt. Der Mensch lernt die Materie, ihre Qualitäten und Aspekte, primär durch die praktische Arbeit mit ihr zur Verwirklichung der Ziele, die er sich selbst setzt, kennen. Diese Art des praktischen Umgangs mit der Natur entspricht unmittelbarer als die theoretische Betrachtung der Aufgabe, die der Mensch nach Gen. 1 mit der Schöpfung erhalten hat, und wird auch den Übergang zur modernen Naturwissenschaft