Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
wie Blut und Fleisch, dann die verschiedenen Glieder; anschließend verbinden sich die Glieder miteinander. Dieser Prozeß ist „zufällig“. Die anscheinend harmonische Organisation des Organismus, in dem alles mit Blick auf ein Ziel zu geschehen scheint (z.B. wachsen die passend gebildeten Zähne am passenden Ort im Mund, damit Teile dessen, was man essen will, abgerissen bzw. gekaut werden können), ist das Ergebnis des Zufalls. Es hat Wesen ohne eine solche Beschaffenheit, die für ihre Fortexistenz nützlich gewesen wäre, gegeben, aber sie sind eben aufgrund dieses Mangels verschwunden. Nur die anderen haben sich als überlebenstüchtig erwiesen. Es sind die Wesen, denen wir heute begegnen. Die Rolle des Zufalls in der Natur erklärt auch die Tatsache, daß wir heute immer noch „mißgebildeten“ Wesen begegnen.
In mancher Hinsicht steht der darwinistische Evolutionismus der mehr als zwei Jahrtausende vorher entwickelten Konzeption Empedokles’ in bemerkenswerter Weise nahe. Zu denken ist an die Idee, daß die gegenwärtig beobachtbaren natürlichen Seienden das Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses sind, daß dieser nicht schnurstracks und mit innerer Notwendigkeit zum Dasein der fraglichen Seienden führt und somit nicht gelenkt, sondern großenteils, wenn nicht gar größtenteils zufällig ist, und daß nur die Seienden, die am besten ihren Lebensbedingungen angepaßt sind, überlebensfähig sind bzw. gewesen sind. Mit Blick auf die Frage der Methode der Naturerkenntnis ist wichtig, daß Empedokles die Existenz der gegenwärtig beobachtbaren Lebewesen nicht als das Werk übernatürlicher – insbesondere göttlicher – Entitäten erklärt, sondern vielmehr als das Produkt natürlicher (irdischer) Faktoren.
5 Naturwissenschaft in der christlichen Welt
Die heidnische Zivilisation der Spätantike machte Platz für eine vom Christentum geprägte Kultur. Die Naturwissenschaft machte in der Spätantike und im Mittelalter keine großen Fortschritte. In der Regel wird der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit der Geburt einer „neuen“ Naturwissenschaft, nämlich der Physik, wie sie von Galilei konzipiert wurde, assoziiert, und dies nicht zu Unrecht. Der Durchbruch der „neuen“ Naturwissenschaft ist der Durchbruch der Moderne. Die Höhen, zu denen die Naturwissenschaft seitdem aufgestiegen ist, sind derart, daß, rückblickend auf die Zeit vor dem bahnbrechenden Werke Galileis, man fast unvermeidlich urteilen wird, daß in ihr auf dem Gebiete der Naturwissenschaft kaum Fortschritte gemacht wurden. Dieses Urteil ist nicht falsch, doch sollten aus ihm keine voreiligen, ja irrigen Schlüsse bzgl. der Haltung des Christentums und der Kirche zur Vernunft im allgemeinen und zur Naturwissenschaft im besonderen, speziell im Mittelalter, gezogen werden. Um solche irrige Vorstellungen zu vermeiden, ist es nützlich, einen Blick zu werfen auf die Entwicklung des wissenschaftlichen Betriebs in der Kultur, die vom Christentum gestaltet wurde. Diese Entwicklung steht und muß verstanden werden im breiteren Zusammenhang des Umgangs des Christentums mit dem Problem des Verhältnisses von „Glauben und Vernunft“. Wie der erste Brief des hl. Paulus an die Korinther zeigt, drängte dieses Problem sich dem Christentum bereits in neutestamentlicher Zeit auf (siehe auch Röm. 1 und Apg. 17), und das Problem beschäftigt christliche Denker bis heute. Im folgenden stellen wir das, was wir als die Kernelemente in der Weise, wie im westlichen Christentum das Verhältnis von Glauben und Vernunft oder von Theologie und Philosophie gesehen worden ist38, und in der Entwicklung der wissenschaftlichen Unternehmung in der vom Christentum beherrschten und gestalteten Kultur betrachten, heraus.
5.1 Die basale Denkform in der klassischen Antike und im Mittelalter als der Hintergrund der Offenheit des Christentums für Vernunft, Philosophie und Naturwissenschaft und der gleichzeitigen Marginalisierung der Naturwissenschaft
Sobald das Christentum sich der nichtjüdischen heidnischen (meistens hellenistischen) Welt öffnete, suchte es die Diskussion mit der zeitgenössischen Philosophie. J. Ratzinger unterstreicht, daß es sich in dieser Hinsicht klar von den heidnischen Religionen abhob, und er schreibt diese christliche Besonderheit der Tatsache, daß im Gegensatz zu ihnen das Christentum von seinem Wesen her immer und überall die Wahrheit gesucht, darum sich der Vernunft geöffnet und dementsprechend seinen natürlichen Partner in der Philosophie gefunden hat, zu39. Bei den Kirchenvätern stößt man jedenfalls kaum auf eine grundsätzliche und umfassende Ablehnung von Vernunft und Philosophie. Im Gegenteil, Vernunft und Philosophie werden generell in einem positiven Licht gesehen. In den folgenden Jahrhunderten wird das so bleiben40. Die herrschende Grundüberzeugung ist, daß es keinen echten Widerspruch zwischen Vernunft und (christlichem) Glauben geben kann. Wir begegnen der Ansicht, daß, wenn die Vernunft zu Erkenntnissen, die bestehenden Glaubensaussagen widersprechen, kommt, dies bedeutet, daß die fraglichen Glaubensaussagen auf einer falschen Auslegung der Offenbarung beruhen und diese darum anders interpretiert werden soll, als bisher geschehen ist41. Das Vermögen der Vernunft, die Wahrheit zu erkennen, wird anerkannt, ebenso aber die Tatsache, daß die Vernunft sich irren kann und ihre Kompetenz nicht unbegrenzt ist, auch und gerade in bezug auf theologische Fragen. Das Eingeständnis der Grenzen der Vernunft folgt jedoch aus der Analyse des Begriffs der Vernunft selbst und nicht aus der Aufnahme eines theologischen Apriori, das der Vernunft fremd wäre. Die affirmative Haltung des Christentums zu Vernunft, Philosophie und Wissenschaft gipfelt in der Scholastik. Des „Rationalismus“ bezichtigt, forderte sie die Verneinung des Vermögens der Vernunft, „autonom“ theologische Aussagen zu machen, durch die Reformation heraus. Bis heute hat die römisch-katholische Kirche konsequent die Lehre von Röm. 1,19-2042, daß der Mensch zu „natürlicher“ Gotteserkenntnis in der Lage ist, verteidigt, und auf dem ersten vatikanischen Konzil hat die Kirche diese Lehre als definitiv bindend proklamiert. Der Protestantismus hingegen erfährt sie oft als eine Herausforderung an die Theologie, hat aber Vernunft und Philosophie nicht gänzlich aus der Theologie verbannt.
Historisch gesehen, hat das Christentum also meistens und grundsätzlich eine wohlwollende Haltung gegenüber der menschlichen Vernunft und der Philosophie eingenommen. Dieses Ergebnis muß jedoch näher bestimmt werden. Wir sagten, daß das Christentum von Anfang an sich mit der Vernunft hat verbünden wollen und darum das Gespräch mit der Philosophie gesucht hat. Die Philosophie ist aber nicht etwas Uniformes und Monolithisches; es gibt sie nur in der Vielfalt von Philosophien. Es gibt eine Vielzahl philosophischer Strömungen. Das frühe Christentum erkannte zwar etwas von sich selbst im Platonismus (bzw. im sog. Mittelplatonismus und Neoplatonismus) und im Stoizismus, aber es konnte diese philosophischen Strömungen doch nicht einfach integral akzeptieren. Denn bis zu einem gewissen Grad waren sie nicht mit dem christlichen Gottesbild und dem christlichen Verständnis der Heilsökonomie zu vereinbaren43. Trotz der Pluralität der philosophischen Strömungen in Antike und Mittelalter läßt sich eine homogene philosophische Kultur in diesen Epochen erkennen. Denn in gewisser Hinsicht verweisen diese Strömungen grundsätzlich auf eine einzige Denkform. Wenn sie sich nicht auf einer gemeinsamen Grundlage bewegten, könnten sie gar nicht miteinander kommunizieren und diskutieren. Das Werk des hl. Thomas von Aquin bezeugt, daß es möglich ist, platonische mit aristotelischen Gedanken zu verbinden, eben wegen des Vorhandenseins einer der platonischen und aristotelischen Philosophie gemeinsamen gedanklichen Basis, die von den inhaltlichen Differenzen zwischen den beiden philosophischen Strömungen unberührt bleibt. Man kann sagen, daß, global gesprochen, das Christentum in der heidnischen Philosophie die ihm eigene Denkform fand. Nach H. Rombach kreist die Denkform der vormodernen (antiken und mittelalterlichen) Philosophie um den Begriff des Seins im Sinne dessen, was bleibt, d.h. im Sinne dessen, was ist und als solches für den Menschen wesentlich oder wirklich bedeutsam ist44. Rombach behauptet, daß diese Art von Philosophie sich im Dienste des menschlichen Lebens sieht45. In der vormodernen Philosophie begegnete dem Christentum somit ein Denken, das ihm verwandt war, nämlich wie es selbst das Sein – die Wahrheit, Gott – in seiner Eigenschaft des guten, d.h. vollendeten Lebens suchte46. Die heidnischen Religionen, besonders die hellenistischen „Mysterienreligionen“, suchen auch das gute Leben, ignorieren aber, im Gegensatz zu Philosophie und Christentum, das Bedürfnis des Menschen nach vernünftiger Begründung seiner Überzeugungen und Praktiken, und das wird schließlich das Ende des Heidentums bedeuten47. Im Vergleich zum Judentum hat das Christentum den Vorteil, eine universalistische Religion zu sein.
Die Feststellung der Affinität des Christentums mit der antiken Philosophie darf einen wichtigen Unterschied zwischen beiden nicht verhüllen. Er besteht im wesentlichen