Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae
Die aristotelische Naturphilosophie würde allerdings nie eine mathematische Gleichung als die Formursache von etwas identifizieren27. Eine mathematische Gleichung von der Art, wie wir ihr in der modernen Physik begegnen, drückt eine numerische Beziehung zwischen Entitäten wie Raum und Zeit aus. Für den Aristotelismus aber sind Entitäten wie Raum und Zeit „Kategorien“, die der Substanz als bloße Akzidenzien anhaften. Wenn der Aristotelismus das Sein denkt, denkt er grundsätzlich die Substanz, und er denkt Akzidenzien wie Raum und Zeit bloß in Beziehung auf die Substanz. Wenn der Aristotelismus das Sein denkt, versucht er zu sagen, was eine Substanz ist und warum sie ist, was sie ist. Während manche Akzidenzien der Substanz eines physikalischen Seienden einen mathematischen Aspekt haben mögen, ist sie selbst von ihrer Form bestimmt, und als solche hat diese wenig oder nichts Mathematisches. Die Erklärung der Substanz kann demnach nicht mathematisch erfolgen. Die moderne Physik hingegen ist ursprünglich nicht an dem Wesen oder der Form von Substanzen interessiert. Ursprünglich untersucht die moderne Physik Dinge wie die Beschleunigung von Körperbewegungen, die Kraft, mit der Körper aufeinander treffen, usw. Bedeutsamer als ihr Wesen oder ihre Form ist der numerische Wert quantitativer Aspekte, etwa des Volumens, der fraglichen Körper. Das galt für die Physik Galileis und Newtons, und es gilt für die zeitgenössische Physik. So werden Elementarteilchen in Beziehung auf quantifizierbare Aspekte wie elektrische Ladung, Masse usw. bestimmt. Und von diesen Aspekten werden keine Wesensdefinitionen, sondern „operationale Definitionen” gegeben, d.h. die fraglichen Aspekte werden nicht nach ihrem jeweiligen Wesen – das unbekannt ist – definiert, sondern ihre Definitionen verweisen auf die meßbaren Wirkungen, die Teilchen durch die fraglichen Aspekte haben. Die Frage, was Teilchen an und für sich sind, wird nicht gestellt; sie werden aber in ihren gegenseitigen Beziehungen verstanden28.
2.3 Naturwissenschaft bei Aristoteles
Nach Van Melsen untersucht die Naturphilosophie das materielle Seiende als solches, d.h. die Merkmale, die ihm notwendigerweise zugeschrieben werden. In der Regel wird unterschieden zwischen anorganischer („toter“) und organischer („lebendiger“) Natur wie auch zwischen Pflanzen und Tieren. Diese Unterschiede sind traditionell, und sie werden immer noch gemacht. Seitdem zwischen Naturwissenschaft und Naturphilosophie unterschieden wird – was in zunehmendem Maße geschieht seit dem Werke Newtons, also seit dem 17. Jahrhundert –, werden Menschen geneigt sein, von Naturwissenschaft zu reden, wenn Zusammenhänge zwischen bestimmten, spezifischen Fakten oder Phänomenen bzw. zwischen bestimmten, spezifischen Arten von Fakten oder Phänomenen, untersucht werden. Die – implizit oder stillschweigend – so verstandene Naturwissenschaft macht keine Aussagen, die die Natur als solche betreffen. Letzteres soll richtig verstanden werden. Wenn die Naturwissenschaft etwa von Licht spricht, spricht sie von Licht „als solchem“ – aber es ist nicht so, daß jedes natürliche Phänomen einfach als ein Lichtphänomen betrachtet werden könnte, und darum ist vom Licht reden nicht vom materiellen Seienden als solchem reden. Im Gegensatz dazu kann von jedem natürlichen Phänomen gesagt werden, daß es in Raum und Zeit situiert ist (oder daß es sich als raumzeitlich bestimmt), so daß Raum und Zeit als Merkmale des materiellen Seienden als solchen gesehen werden müssen. Die Enthüllung und Erforschung der Merkmale des materiellen Seienden als solchen kann zu den Aufgaben der Naturphilosophie, wie Van Melsen sie versteht, gezählt werden29.
Wenn Naturphilosophie und Naturwissenschaft verstanden werden, wie sie hier verstanden werden, kann die eine Disziplin die andere weder bestätigen, noch widerlegen. Naturphilosophie und Naturwissenschaft beziehen sich auf verschiedene Aspekte und Dimensionen der Wirklichkeit und stellen ihr verschiedene Fragen. Es ist aber möglich, daß Entwicklungen in der einen Disziplin zur effektiven öffentlichen Akzeptanz einer korrekten Einsicht – oder zur effektiven öffentlichen Ablehnung einer falschen – der anderen Disziplin beitragen. Tatsächlich hat die Naturphilosophie von der Entwicklung der Naturwissenschaft profitiert. Es sei hier nur erinnert an die Tatsache, daß Demokrits Atomismus – die Idee räumlich ausgedehnter, aber nichtsdestotrotz physikalisch unteilbarer Partikel – trotz seiner logischen Inkonsistenz sehr lange als eine gut zu verteidigende Position in der Naturphilosophie betrachtet wurde, so aber nicht mehr gesehen wird, seitdem die Physik die Idee unveränderlicher Teilchen aufgegeben hat. Gleichzeitig hat der Hylemorphismus durch die Entwicklung der Physik an Plausibilität gewonnen: Materie als solche ist reine Potenz für den Akt einer Form. Strenggenommen gilt nichtsdestotrotz, daß die moderne und zeitgenössische Naturwissenschaft Aristoteles’ Naturphilosophie, wie sie oben skizziert wurde, weder bestätigt, noch widerlegt. Die Lehre der vier Ursachen und der Hylemorphismus sind a priori gültig; sie beruhen auf einer rationalen Analyse des Begriffs des materiellen Seienden als solchen30 und sind somit immun für die empirische Naturforschung. Umgekehrt sagt der Hylemorphismus nichts über spezifische chemische Reaktionen usw.
Im Gegensatz zum heutigen Denken unterscheidet Aristoteles nicht zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Er unterscheidet zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik31. Seine „Physik“ hat allerdings wenig mit der heutigen Naturwissenschaft (insbesondere der zeitgenössischen Physik) zu tun, sondern ist in etwa die Naturphilosophie, wie sie oben umrissen wurde. Aristoteles’ Kriterium zur Unterscheidung zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik ist der Abstraktionsgrad, der den jeweiligen Wissenschaften qua Erkenntnisformen eigen ist. Die Physik abstrahiert das Wesentliche (als unterschieden vom Akzidentellen), die Mathematik abstrahiert das Quantitative (als unterschieden vom Qualitativen), und die Metaphysik abstrahiert das Sein als solches. Diese Unterscheidung impliziert, daß die Mathematik kein Mittel zum Erfassen des natürlichen Seienden ist, wie bereits angedeutet wurde32. Für die moderne Physik hingegen ist die Mathematik das unverzichtbare Instrument zum Verständnis der materiellen Welt.
Anhand der Unterscheidung Van Melsens zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft können wir in Aristoteles’ Werk wissenschaftliche Überlegungen zur Natur von philosophischen unterscheiden. Wir finden wissenschaftliche Überlegungen, wo er die Mathematik verwendet, um bestimmte natürliche Phänomene zu beschreiben und zu erfassen, oder wo er Pflanzenarten beschreibt und analysiert. Anders als seine naturphilosophische Arbeit ist seine wissenschaftliche durch die spätere wissenschaftliche Forschung substanziell widerlegt und korrigiert worden. Seine Irrtümer in der Lehre der Bewegung von Körpern stimulierten die Geburt der neuen Naturwissenschaft im Stile Galileis. Die Talfahrt des Aristotelismus in der Neuzeit erklärt sich zum Teil aus Irrtümern dieser Art. Es bleibt jedoch wahr, daß Aristoteles’ naturphilosophische Leistungen von seinen naturwissenschaftlichen Fehlgriffen im Grunde unberührt bleiben. Die Talfahrt der Naturphilosophie Aristoteles’ in der Neuzeit hat jedoch weniger mit ihnen zu tun als damit, daß diese Naturphilosophie insofern „steril“ war, als sie, anders als die moderne Naturwissenschaft, keine Vorhersagen konkreter, spezifischer Phänomene und somit keine Kontrolle über die Natur erlaubte. Für Aristoteles konnte Kontrolle über die Natur jedenfalls nicht das Ziel der Naturwissenschaft sein. Für ihn ist Naturwissenschaft eine theoretische Wissenschaft und wird als solche um ihrer selbst willen betrieben. Theoretische Wissenschaft ist kontemplativer Natur.
3 Mathematik und Naturwissenschaft in der späteren heidnischen Antike
In diesem Abschnitt gehen wir auf einige Schlüsselmomente in der Entwicklung der Naturwissenschaft in der nacharistotelischen heidnischen Antike ein. Das erlaubt es uns, den oben dargelegten Unterschied zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft zu beleuchten. Wir konzentrieren uns auf Denker, die die Mathematik in die Physik integriert haben.
3.1 Archimedes
Ein scharfer Unterschied zwischen Philosophie und Wissenschaft, besonders zwischen Naturphilosophie und Naturwissenschaft, wird in der vormodernen Zeit nicht gemacht. Aus heutiger Perspektive können wir in den Werken der Denker der Antike nichtsdestotrotz Ideen, die wir philosophisch nennen, von Ideen, die wir wissenschaftlich nennen, unterscheiden. Wir sahen das bereits im Falle des Werkes Aristoteles’. Er ist hauptsachlich als Philosoph bekannt geworden und bedeutsam geblieben. Archimedes hingegen ist als Naturwissenschaftler berühmt geworden. Archimedes’ Name wird bis heute in den Handbüchern der Physik erwähnt.
Aus wissenschaftstheoretischer Perspektive erscheint Archimedes als ein Vorläufer der modernen Physik33.