Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae


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ist es den Naturwissenschaften nicht gegeben, sich zur Gottbezogenheit des Menschen zu äußern. Die Bezogenheit aufs Absolute ist ja etwas vom menschlichen Geiste, und über ihn – über die Frage, ob es ihn gibt bzw. welcher Natur er ist – können die Naturwissenschaften als empirische Wissenschaften nichts sagen. Die Kompetenz der Naturwissenschaften reicht nicht weiter als die Bestimmung quasigesetzmäßiger Zusammenhänge zwischen Sinneswahrnehmungen. Das ist der Grund, warum die Naturwissenschaften auch nicht sagen können, ob etwa materielle Prozesse sich gemäß einem „inneren Determinismus“, der die Möglichkeit der Kausalität durch Freiheit ausschließt, vollziehen. Theologie und Naturwissenschaft berühren einander kaum. Sie können einander weder bestätigen, noch widerlegen. Die Formeln der Physik beziehen sich auf die „Erscheinungen“, die Theologie beschäftigt sich mit dem Sein, das sich nicht in den von der Physik zu studierenden Erscheinungen erschöpft, sondern ihre transzendente Möglichkeitsbedingung ist. Auf diesen Umstand spielt der Titel unserer Arbeit, Von der Formel zum Sein, an. Er ist inspiriert vom Titel einer Arbeit H.-D. Mutschlers, Von der Form zur Formel. Während er in dieser Arbeit die Beziehung zwischen Metaphysik und Naturwissenschaft untersucht, untersuchen wir in unserer Arbeit die Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Eine konsequente Untersuchung der Beziehung zwischen Naturwissenschaft und Metaphysik hätte u.E. jedoch auch den Titel Von der Formel zum Sein tragen können. Eine konsequent durchgeführte Metaphysik, wie sie auf der Grundlage des Denkens des hl. Thomas von Aquin etwa von F. Ulrich erarbeitet wird, problematisiert ja das Sein der Seienden. Eine solche Metaphysik stößt damit zum transzendenten Seinsgrund, den wir Gott nennen und zu dem die Naturwissenschaft prinzipiell keinen Zugang hat, vor. Die Tatsache, daß zwei Jahrtausende lang die Metaphysik der bevorzugte Gesprächspartner der Theologie gewesen ist und sie während dieser Zeit das Gespräch mit der empirischen Naturwissenschaft kaum gesucht hat, beruht nicht auf einer bedauernswerten Verirrung der theologischen Vernunft, sondern auf ihrem rechten Selbstverständnis. Die theologische Wahrheit ist nicht mit der naturwissenschaftlichen, sondern mit der metaphysischen verwandt11. Dieser Sachverhalt ist allerdings, wie unsere Untersuchung nach dem Wahrheitsanspruch des Christentums angesichts des Wahrheitsanspruchs der Naturwissenschaft in der Diskussion der Gegenwart zeigt, nicht allen Zeitgenossen, die über das Verhältnis zwischen Theologie und Naturwissenschaft nachdenken, hinreichend deutlich und verdient es, neu ins Bewußtsein gehoben zu werden.

      1 So EHLEN, Atheismus, S. 302.

      2 Siehe COTTIER, Dieux, S. 95-128.

      3 Siehe den geschichtlichen Überblick bei MARTINA, Storia I, S. 53-123.

      4 So LEHMANN, Gegenwart, S. 11-34.

      5 Siehe GREISCH, Buisson I, S. 73-119.

      6 Siehe METZ/PETERS, Gottespassion, S. 11-62.

      7 Weitverbreitet ist die Überzeugung einer umgekehrten Proportionalität zwischen Bildungsstand und Religiosität. „Eine Gesellschaft hört wie eine Person auf, religiös zu sein in dem Maße, in dem sie entwickelter und freier ist. Das scheint mir eine der grundlegenden Überzeugungen des heutigen Atheismus zu sein“, schreibt SEBASTIÁN AGUILAR, Fe, S. 335.

      8 Mittlerweile findet man sogar bei manchen Theologen – etwa BÖTTIGHEIMER, Not, passim – die Ansicht, daß das Bittgebet durch die Entwicklung der Naturwissenschaft obsolet geworden ist. Wir fragen uns, wie sie diese Ansicht vereinbaren können mit Jesu Auftrag, unablässig Gott um alles, was wir verlangen, zu bitten. Böttigheimers Auslassungen irritieren umso mehr, als er offensichtlich kein Bedürfnis, sie durch erkenntnistheoretische und ontologische Analyse zu erhärten, spürt.

      9 Zur vom Artikel Kardinal von Schönborns von 2005 ausgelösten Kontroverse, siehe unten, S. 392-394.

      10 Siehe SCHOCKENHOFF, Kosmologie, S. 119-127.

      11 Denn „alles Theologische ist schließlich metaphysisch“, ja „vielleicht ist alle Metaphysik nur anonym gebliebene Theologie“, meint HENRICI, Philosophie, S. 20.

       KAPITEL 1. DIE ENTWICKLUNG DER NATURERKENNTNIS BIS GALILEO GALILEI

      Der Begriff „Naturwissenschaft“ ist nicht univok. Es gibt verschiedene Arten von Naturwissenschaften. Der Unterschied zwischen Physik, Chemie und Biologie ist traditionell. In jeder dieser Wissenschaften sind mehrere, oft hochspezialisierte Subdisziplinen zu unterscheiden. Zugleich fehlt es nicht an Versuchen, die verschiedenen Naturwissenschaften samt ihren Subdisziplinen in Einklang zu bringen. Es läßt sich allerdings neben der synchronen Vielzahl von Naturwissenschaften eine diachrone Differenziertheit der Naturwissenschaft ausmachen. Das 17. Jahrhundert – der Anfang der westlichen „Moderne“ – wird meistens als ein Bruch in der Geschichte der Naturerkenntnis betrachtet. Dank dem Werke Galileo Galileis (1564-1642) wurde in der Physik die Methode von Experiment und mathematischer Berechnung vorherrschend, und diese Dominanz existiert bis heute. Die rationale Naturerkenntnis wie es sie bis zur Zeit Galileis gegeben hatte, war der Form nach eher mit der heutigen Naturphilosophie als mit der heutigen Naturwissenschaft vergleichbar, obwohl das, was heute Physik heißt, im „vormodernen“ Denken nicht ganz fehlte12. Ein kurzer Blick auf die Geschichte der rationalen Naturerkenntnis wird uns helfen, Einsicht in die charakteristischen Merkmale der wissenschaftlichen Methode Galileis und damit in die Beziehung zwischen christlicher Theologie und zeitgenössischer Naturwissenschaft zu gewinnen.

      Die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft steht im Zusammenhang der Geschichte der westlichen Rationalität. Meistens wird die Geburt der Philosophie in Griechenland im 6. Jahrhundert v.Chr. als der Anfang dieser Geschichte gesehen13. Sie beginnt, wenn Menschen Abstand von den traditionellen mythischen Erklärungen der Welt und des Lebens gewinnen und durch Sinnenerfahrung und unabhängiges Denken einen inneren Zusammenhang zwischen Tatsachen und Ereignissen und schließlich eine innere Ordnung in der Welt suchen. Es besteht insofern eine Spannung zwischen dieser Unternehmung und den Mythen, als diese natürliche Ereignisse durch die willkürlichen Eingriffe übernatürlicher Entitäten, Geister und Götter, in die Welt erklären. Die Mythen stellen diese Entitäten oft vor als das Ergebnis eines genetischen Prozesses und in diesem Sinne als einem anonymen Schicksal unterworfen. Die Geburt der Philosophie wird allgemein als der Übergang der Menschheit vom Stadium der Mythe zu dem der Vernunft gesehen. Traditionelle, unkritisch übernommene volkstümliche Vorstellungen fangen an, Platz zu machen für die Suche nach einem weltimmanenten Zusammenhang zwischen Ereignissen, nach einer inneren Ordnung in der Welt, aufgrund unabhängiger Wahrnehmung und unabhängigen Denkens. Diese Suche schließt nicht per se die Annahme von Transzendentem und Göttlichem aus, möchte sie aber nur durch Denken und Wahrnehmung zu begründen suchen.

      Daß es eine innere Ordnung in der Natur gibt, legte sich den Menschen – nicht nur den Griechen – der Antike nahe aufgrund der Regelmäßigkeit von Phänomenen wie den Bewegungen der „Himmelskörper“ und dem Wechsel der Jahreszeiten und den entsprechenden natürlichen Ereignissen (dem Ansteigen von Gewässern, dem Blühen von Bäumen usw.). Die Astronomie ist dementsprechend in verschiedenen alten Kulturen schon weit entwickelt. Ähnliches kann von der Mathematik gesagt werden. Sie wird für die Berechnung der Bewegungen der „Himmelskörper“ gebraucht, aber auch um ihrer selbst willen betrieben.

      Die ersten Philosophen sind im wesentlichen „Naturphilosophen“. Die Aufmerksamkeit der Milesier Thales, Anaximander und Anaximenes gilt in erster Linie weniger dem Menschen als der Natur. Sie entwickeln eine Art rationaler Kosmologie. Sie nehmen kritisch Abstand von der mythischen Kosmogonie und streben danach, durch Wahrnehmung und Denken ein umfassendes Weltbild zu entwerfen und der Wirklichkeit – allem, was ist – ein universelles Prinzip (arché im Sinne „elementarer Materie“ oder „substantialer Materie“) zugrunde zu legen. Die Milesier beschäftigen sich aber auch mit der Erforschung konkreter, bestimmter Phänomene14.

      Für Thales von Milet kann alles,


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