Von der Formel zum Sein. Raymond Jahae

Von der Formel zum Sein - Raymond Jahae


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engeren Sinne des Wortes – im Sinne, im dem die Moderne sie versteht – unvermeidlich konfrontiert wird, und die darin besteht, inmitten der vielen Aspekte des materiellen Seienden diejenigen, zwischen denen eine gesetzmäßige Beziehung waltet, zu identifizieren und die genaue Art dieser Beziehung zu bestimmen.

      Die verschiedenen Faktoren, die als Ursachen der langsamen Entwicklung der Naturwissenschaft in vormoderner Zeit benannt wurden, hängen natürlich miteinander zusammen. In einer Welt, in der nichts sicher ist und das Leben ständig bedroht wird von Krankheit, Gewalt und Kargheit – Epidemien, Kriegen und Hunger –, sucht der Mensch nach einem Halt, und diesen sucht er spontan nicht in der Welt um sich herum, welche Welt ja genau der Bereich der Instabilität und des Todes ist, sondern in etwas, das die Welt transzendiert75. Der Mensch neigt insofern dazu, so zu handeln, als er das Leben in dieser Welt als chaotisch erfährt, so daß er sich nicht ermutigt fühlt, eine immanente Logik in den Ereignissen, denen gegenüber er sich hilflos vorkommt, zu suchen76. Er wendet sich von der chaotischen Welt ab und sucht Heil im transzendenten Sein. So wird die Entwicklung der Naturwissenschaft verzögert. Die Untersuchung naturwissenschaftlicher Probleme verspricht keinen großen Erfolg, und sie erscheint angesichts der dringenden Probleme des täglichen Lebens wie ein Luxus, den sich nur eine kleine Elite vom Leben Privilegierter leisten kann – so wie in der klassischen Antike die Philosophie etwas für eine kleine Gruppe freier Menschen war77.

      12 „Es gibt […] niemanden, […] der bestreiten möchte“, daß Galilei „wohl am meisten zum Zustandekommen der klassischen Naturwissenschaft beigetragen hat”. Er ist „die zentrale Gestalt im Übergang vom antik-mittelalterlichen zum klassischen naturwissenschaftlichen Denken“, schreibt DIJKSTERHUIS, Mechanisering, S. 368-369.

      13 Das ist zumindest die „lange Zeit selbstverständliche Beurteilung der geistesgeschichtlichen Entwicklung“ gewesen (WALDENFELS, Mythos, S. 259). Dieser Beurteilung entsprechend sprach man lange unproblematisch vom Übergang „vom Mythos zum Logos“, aber heute wird anerkannt, daß „der Mythos seinen eigenen Logos offenbart“ (ibid., 266).

      14 Unsere Darlegung des Denkens der milesischen Philosophen folgt RICKEN, Philosophie, S. 21-43; SUCHAN, Geschichte, S. 93-101.

      15 COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 66; vgl. SELVAGGI, Filosofia, S. 561.

      16 Vgl. HOENEN, Philosophie, S. 15-21.

      17 Natürlich hat Demokrits Atombegriff wenig oder nichts mit dem Atombegriff der heutigen Physik und Chemie zu tun (vgl. MEESSEN, Aufbau, S. 12-13).

      18 ERBRICH, Makrokosmos, S. 20.

      19 Nach COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 12, bestand die Rolle der Entwicklung der Mathematik in diesem Prozeß in der Entdeckung der irrationalen Zahlen. Sie zerstörte die pythagoreische Überzeugung, daß die Konstitution der Welt auf Beziehungen zwischen ganzen Zahlen zurückgeführt werden kann.

      20 ERBRICH, Makrokosmos, S. 21.

      21 Siehe VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 7-31, 48-50.

      22 „Mit dem bloßen Leben […] hat der Mensch noch nicht sein ihm eigentliches Ziel erreicht. Dies ist erst das gute, gelungene Leben, das sich in derjenigen Praxis einstellt, in der der Mensch seine Anlagen entfaltet und gemäß dem ihm eigenen Lebensplan zur Verwirklichung bringt“ (HONNEFELDER, Gesundheit, S. 112-113).

      23 Zum folgenden, siehe VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 14-31, 48-50, 320-343; ID., Natuurwetenschap, S. 17-20.

      24 Siehe SPAEMANN/LÖW, Frage, S. 51-78.

      25 Siehe DOLCH, Kausalität, S. 168-185.

      26 Anders als Platon wird die moderne Naturwissenschaft der „Idee“ jedoch keine unabhängige objektive Existenz zuschreiben.

      27 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 16-19.

      28 Für die Revolution im Denken, die der Durchbruch der modernen Naturwissenschaft impliziert, siehe ROMBACH, Substanz I, S. 11-56.

      29 Zum folgenden, vgl. VAN MELSEN, Natuurfilosofie, S. 320-343; ID., Evolutie, S. 42-63; ID., Natuurwetenschap, S. 17-20.

      30 Das aristotelische Substanzdenken stößt in der heutigen Naturphilosophie auf Kritik. Wir sind jedoch davon überzeugt, daß der Substanzbegriff nicht überholt ist, sondern sich dem Denken aufdrängt. Für die Kontroverse, siehe CLARKE, Explorations, S. 102-122.

      31 Der Unterscheidung zwischen Physik, Mathematik und Metaphysik geht eine andere voraus, nämlich die Unterscheidung zwischen praktischer, poietischer („herstellender“) und theoretischer Wissenschaft. Physik, Mathematik und Metaphysik gehören alle zu den theoretischen Wissenschaften. In ihnen wird Einsicht um ihrer selbst willen gesucht.

      32 Siehe oben, S. 35-36.

      33 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 21-25.

      34 Zum folgenden, siehe ERBRICH, Makrokosmos, S. 29-41.

      35 ERBRICH, Makrokosmos, S. 31.

      36 Demokrits Denken ist besonders provokativ, weil es impliziert, daß sowohl der Unterschied zwischen lebloser und lebendiger Natur als auch jener zwischen Irrationalem und Rationalem nichtig ist. Die Milesier scheinen ähnlich wie Demokrit zu denken, indem sie ein einziges und universales materielles Prinzip für alles, was es gibt, suchen.

      37 Zum folgenden, siehe ERBRICH, Makrokosmos, S. 12-14; VAN MELSEN, Geschiedenis, S. 40-42; RICKEN, Philosophie, S. 53-54.

      38 Eine Zusammenfassung der Geschichte des Verhältnisses zwischen christlicher Theologie und Philosophie bis 1900 findet sich bei VERWEYEN, Philosophie, passim; für dieses Verhältnis in der Antike siehe ibid., S. 109-179.

      39 Siehe RATZINGER, Gott, S. 19-29 (für einen Kommentar zu diesem Text, siehe VERWEYEN, Joseph, S. 28-34; RATZINGER, Glaube, S. 133-141); vgl. RATZINGER, Einheit, S. 71-79.

      40 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 33-60.

      41 Der hl. Augustinus „fordert, daß im Falle eines Widerspruchs zwischen einer biblischen Aussage und einer gut begründeten wissenschaftlichen Wahrheit, wir uns um eine metaphorische Interpretation der Bibel bemühen sollten“ (HELLER, Chance, S. 186).

      42 Für eine Erklärung dieses Abschnitts bzgl. der Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis, siehe unten, S. 61-62.

      43 Siehe hierfür etwa VON IVÁNKA, Plato, passim; RICKEN, Homousios, passim.

      44 Siehe ROMBACH, Gegenwart, S. 47-72. Ähnlich äußert sich GIBLET, Temps, S. 39-41.

      45 HADOT, Philosophie, S. 265-352, sagt etwas Ähnliches, ist aber der Ansicht, daß die Philosophie ihre „existentielle“ Bedeutung in der Moderne nicht gänzlich verlor – oder fallenließ.

      46 Das könnte Nietzsches berühmtes Diktum, das Christentum sei „Platonismus fürs Volk“, erklären.

      47 Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 37.

      48 Hegel hat diesen Aspekt des Christentums stark betont. Siehe GREISCH, Buisson I, S. 166-168.

      49 „Der Platonismus war zutiefst überzeugt von dem unendlichen Abstand zwischen Gott und Welt, Geist und Materie; eine direkte Befassung Gottes mit den Dingen der Welt mußte ihm gänzlich unmöglich erscheinen“ (RATZINGER, Einheit, S. 72).

      50 Die antike Idee des fatum kann als eine Vorwegnahme der modernen Idee der Naturgesetze gesehen werden. Siehe COYNE/HELLER, Comprehensible, S. 5.

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